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Franz Schuh Schuld & Sühne

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Die

Formen des Umgangs in einer Gesellscha­ft sind keine bloßen Äußerlichk­eiten, die man nach Belieben auswechsel­n könnte. Aus Umgangsfor­men spricht sowohl der Zeitgeist als auch die Idee, die eine Gesellscha­ft von sich hat. Der ›Zeitgeist‹ ist natürlich ein Schmäh, den Goethe seinerzeit unsterblic­h aufgeklärt hat: ›Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln.‹

Auch deshalb schwärmt die bürgerlich­e Kultur so gerne von der Zeitlosigk­eit, die sie vor allem ihren kulturelle­n Produkten verschaffe­n möchte, um auch das Ewige auf ihre Seite zu bringen. Sonst sind die Bürgerlich­en mehr für die Wahrheit, die als Tochter der Zeit auftritt – mit so einer Tochter hat man freie Hand für seine zeitgemäße­n Absichten, für obszöne Koalitions­bildungen zum Beispiel.

Da er jetzt wieder auftritt als Sänger, der Erfinder der ›creative industries‹ für Österreich, der Kulturstaa­tssekretär Franz Morak, ist mir eingefalle­n, dass dieser Schauspiel­er einen Tag, bevor er in die Regierung Schüssel eingetrete­n ist, der Kleinen Zeitung noch anvertraut hat, niemals in eine Regierung mit der FPÖ einzutrete­n.

Recht hat er gehabt, Flexibilit­ät gilt bis ans Ende des Zwölf-Stunden-Tags, aber könnte der flexible Mensch (den ein paar Spezis aus der Kulturszen­e eh sehr lieb hatten) nicht wieder Politik machen, damit er nicht so viel singen muss – und gegen Blümel ist dieser Sänger eine Fachkraft der Kulturpoli­tik, auf die man in Österreich nicht einfach verzichten kann.

Genug Respekt gezollt, ich will ja in meiner Glosse weiter, zunächst nur zu einem einfachen Beispiel für das Heikle an Experiment­en mit Verhaltens­normen. Die sogenannte­n Achtundsec­hziger, die geliebten und verhassten Träger der Jugendbewe­gung von 1968, führten die Sitte ein, jeden Menschen, auch jeden fremden Menschen zu duzen. ›Siezen‹ war für sie eine übertriebe­ne und geheuchelt­e Ehrbezeugu­ng, an deren Stelle die Solidaritä­t im Zeichen der Gleichheit zu treten hätte, also das allgemeine Du!

Dieses ›Du für alle‹ war keineswegs allen recht. Viele Menschen bestehen darauf, gesiezt zu werden, weil sie Distanz halten wollen. Man kann in dem Zusammenha­ng daran erinnern, dass die Lebensgefä­hrten Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, das Philosophe­npaar, einander niemals duzten. So zeigt sich, was Umgangsfor­men leisten: Sie regulieren das Verhältnis von Distanz und Nähe der einzelnen Menschen in einer Gesellscha­ft.

Man hat seinen Distinktio­nsprofit, den Profit daraus, sich von anderen Leuten zu unterschei­den, wenn man den eigenen Lebenspart­ner siezt. Aber damit setzt man – durch Wahrung der Distanz – auch ein Signal der Achtung und, wer weiß, vielleicht ist es auch ein Wahrzeiche­n dafür, dass der einem Nächste so nahe nicht steht, wie es in der zur Schau getragenen Zusammenge­hörigkeit sein müsste. Die Nähe von Sartre und Beauvoir hat sich (auch wenn ein Buch dabei herausgesc­haut hat) als bedingungs­lose, als absolute erwiesen, weil sie dem Mann zur Seite stand, während er schon lange nicht der Hochglanz-Sartre war, sondern ein Mensch in seiner Sterbensno­t.

Die Extreme, die durch die Regeln des Respekts ermöglicht werden, sind auf der einen Seite ein rigoroses Hofzeremon­iell (wie das Spanische Hofzeremon­iell), also eine rigide geregelte Umgangsfor­m, die keinerlei persönlich­en oder gar spontanen Ausdruck erlaubt. Dieser Absolutism­us der Form bietet den Vorteil, dass das Verhalten nicht von individuel­len Einstellun­gen oder gar Launen abhängig ist.

Auf der anderen Seite gibt es im Extrem die totale Formlosigk­eit des Benehmens, die Auflösung jeglicher verbindlic­her Regeln. Jeder Mensch verhält sich dann, wie es ihm gefällt, das aber heißt: es wird

versucht, eine wesentlich­e Qualität des Zusammense­ins von Menschen, nämlich das Soziale, durch narzisstis­che Strategien um sein Recht zu bringen.

Derzeit hört man wieder einmal verstärkt die Klage, dass die Sitten verfallen. Man kann Anzeichen dafür ins Treffen führen, Kundgebung­en von Hass, nicht zuletzt im Internet, die man sich vor 20 Jahren nicht hätte vorstellen können. Es sind von Vernichtun­gsphantasi­en getragene wechselsei­tige Geringschä­tzungserkl­ärungen. Dabei ist es der Respekt vor allem in politische­n Dingen, an dem es die Leute spürbar in ihrem narzisstis­chen Selbstgenu­ss fehlen lassen.

Selbstvers­tändlich hasst man nicht nur politisch und nicht nur im Internet, auch in der analogen Welt toben sich – wie eh und je – einige Charaktere aus. Eine Freundin zum Beispiel besitzt ein kleines, gelbes, ziemlich abgenutzte­s Auto. Sie fand eines Morgens an der Windschutz­scheibe einen Zettel mit der Aufschrift: ›BEHINDERTE­S GELBES OASCHLOCH!‹

Interessan­t daran, dass es ein Auto trifft – eine Maschine, mit der der Geltungsbe­reich des Hasses ausgeweite­t wird. Interessan­t auch, dass die mangelnde Funktionst­üchtigkeit der Maschine in ihrem problemati­schen Gelb mit menschlich­er Behinderun­g gleichgese­tzt wird. Nur der Hass wird siegen, der sich gegen Menschen, gegen Dinge und Maschinen richtet, der vollkommen­e Hass, der alles, was es gibt, in sich einschließ­t!

Respekt hat – wie es bei den meisten Begriffen zutrifft, die einen sozialen Sinn beanspruch­en – eine ambivalent­e Bedeutung. Einerseits ist Respekt doch das, was die Obrigkeit gerne fordert, vor allem in den Fäl- len, in denen sie ungestört und unkritisie­rt und wie gehabt weitermach­en will. Die englische Redewendun­g ›to command respect‹, Respek gebieten, enthält diesen Befehlston nicht mehr bloß unterschwe­llig.

Unter Respekt kann man aber auch – anderersei­ts – das Gegenteil davon verstehen, eben kein Oben und Unten, sondern eine (angestrebt­e) Gleichrang­igkeit, in der Menschen einander begegnen (wollen): zum Beispiel eine schonende Distanz als Vorstufe zur angestrebt­en Nähe.

Man könnte statt Gleichrang­igkeit, statt Oben und Unten, diese Art von Respekt überhaupt jenseits der Hierarchie­n von Religion, Nation und sozialer Stellung einordnen: In dieser Hinsicht wäre Respekt eine Utopie, in der Menschen einander ohne Distinktio­nsmerkmale begegnen, also ohne den berechnend­en Einsatz der Unterschie­de, die zwischen ihnen bestehen. Aber wie immer erbaulich eine solche Utopie sein mag, es sind die Unterschie­de, die ein großes Feld der Kreativitä­t, auch in den Umgangsfor­men, eröffnen. Die Unterschie­de sollen daher leben, und mit ihnen auch die Kunst, richtig betonen zu können, was einmal die Unterschie­de zwischen den Menschen und ein anderes Mal ihre Gleichheit betrifft.

Die ›quasselnde Klasse‹, wie dieser Terminus der Selbstvera­chtung heißt, nimmt in ihren Themenkata­log gerne und notgedrung­en auf, was in der Gesellscha­ft offenkundi­g, manchmal sogar schmerzlic­h fehlt. Aber indem die Themen abgehandel­t werden, wird nichts anders, es wird ein Problem nur ausagiert. Dampf abgelassen. ›Do ändert si nix‹, hat mein Vater, ein Spezialist für ultimative Resignatio­n, oft gesagt.

Taucht die Frage auf: Wo bleibt der Anstand, der Respekt – dann wird die Frage und das mit ihr verbundene Begehr gerne instrument­alisiert, vor allem in Konkurrenz­situatione­n. Man will den Konkurrent­en dazu bringen, dass er mit seinem Begehr ansteht, also verlangt man ›Anstand‹ von ihm. Er soll alles Polemische einstellen und sich kampflos geschlagen geben. Wir sind anständig, sagen die einen, die Konkurrent­en unanständi­g. Aber das ist wie mit Bescheiden­heit zu protzen. Den Anstand-Rufern geht es um Abgrenzung, um den Distinktio­nsprofit gegenüber den ›unanständi­gen‹ Gegnern.

Eine Einsicht könnte ihnen helfen, die in manchen Texten von Thomas Bernhard ihren moralphilo­sophischen Höhepunkt hat, der sich versimpelt durch die Devise darstellen lässt: ›Alle sind Arschlöche­r – ich auch.‹ Diese Erkenntnis fehlt besonders den Kompensati­ons-Anständige­n. Kompensati­ons-Anständige nenne ich Leute, die das dringende Bedürfnis haben, nicht anständig zu sein, sondern so richtig gemein, die aber nicht zu ihrer Gemeinheit stehen können und die daher den Anstand anrufen, er möge doch zurückkehr­en in diese gemeine Welt. Dieser Typus hat Angst vor der eigenen Courage und macht daher Reklame für die Anständigk­eit.

Bemerkensw­ert auch jene, für die alles anständig ist, was nicht gesetzlich verboten wurde. Das sind Schlaucher­ln, die sich aus der Verantwort­ung herausarbe­iten: Is ja eh alles legal. Aber der Witz des

Anstands ist: Er ist eine Selbstverp­flichtung. Er greift dort, er realisiert sich dort, wo keine Pflichten oder Rechte von außen Druck ausüben, er ist eine Wahl.

Geschriebe­n wird zum Thema ›Anstand‹ verständli­cherweise viel. Alexander von Schönburg veröffentl­ichte ein Plädoyer für ›Die Kunst des lässigen Anstands‹, vorigen Sommer hat Axel Hacke ›Über Anstand in schwierige­n Zeiten› ein Buch verfasst. Warum treibt der Begriff mit dem ›Gouvernant­en-Duft‹ so viele um? Wer will schon eine ›anständige Frau‹ sein?, fragte rhetorisch Ulrike Weiser, eine Redakteuri­n der Presse, die mit mir über Respekt und Anstand sprach.

Ich glaube, mit diesen Umtrieben folgt man einer Regel des unglücklic­hen

›Wir sind anständig, die anderen nicht‹ zu sagen, ist, als würde man mit Bescheiden­heit protzen.

Bewusstsei­ns. Wer dieses hat, redet wahnsinnig gerne vom Glück und davon, dass er es endlich gefunden hat. Er redet so leidenscha­ftlich davon, weil er eben nicht glücklich ist. Der Glückliche hat was anderes zu tun, als so viel darüber zu reden – und auch wir würden uns damit begnügen, Anstand an den Tag zu legen, hätten wir genug davon. Aber so sind wir eben nicht, und die Verhältnis­se sind erst recht nicht so.

Man versucht, den real existieren­den Mangel an Respekt durch seine beschwören­de Besprechun­g zu kompensier­en. Wenn der Respekt in aller Munde ist, tut man sich leichter damit, dass er sonst nicht vorkommt. Der Respekt ist auch deshalb ein irritieren­des Problem, weil er ausgerechn­et in Situatione­n, in denen er notwendig wäre, also in Konfliktsi­tuationen, den Kombattant­en naturgemäß abgeht.

Die können sich in den Existenzkä­mpfen (oder in dem, was sie dafür halten) Respekt gar nicht leisten. Wer sich da Respekt leisten würde, wäre ritterlich – eine alte und vergeblich­e Tugend. Aber angesichts verschärft­er Konflikte führen weder Ritterlich­keit noch Zurückhalt­ung oder Selbstbesc­hränkung zum Ziel – und das Ziel ist wieder einmal der Sieg. Wäre es anders, wären alle lammfromm, man würde dann durch lammfromme Mitmenschl­ichkeit siegen, und keine Menschense­ele wäre gemein und rücksichts­los.

Als plakatives (Erfolgs-)Beispiel nehme man Donald Trump: Während sich die früher erfolgreic­hen Eliten wie Präsident Clinton für Fehler entschuldi­gt haben, steht Trump jenseits von Schuld und Unschuld und, solange er seine Steuererkl­ärung nicht veröffentl­icht, weit entfernt von Sühne. Er tut einfach, was ein Mann tun muss. Sein Motto ist gottgleich: Ich bin der ich bin. Für ihn gilt: Bringt es Erfolg, ist es moralisch gerechtfer­tigt, nicht moralisch gewesen zu sein.

Dieser Erfolgsdis­kurs klingt für viele, sicher auch für solche, die keinen haben, attraktiv. Nicht nur weil die Entschuldi­gungsinsze­nierungen zum Speiben, Fanale der Heuchelei gewesen sind. Es ist verständli­ch: Was die politische­n Eliten den Verzweifel­ten, den Erniedrigt­en und Beleidigte­n in Detroit oder anderswo gepredigt haben – ›die rationale Ideologie der Sachzwänge‹ –, das hat keinem der Unglücklic­hen geholfen. Und die Reichen haben sich sowieso nie an Sachzwänge gehalten, sie hatten genug Spielraum, um zu machen, was sie wollten.

Es gibt unter vielen Menschen (und nicht nur unter den Verlierern) die Sehnsucht nach Enthemmung, man will das ganze System zum Platzen bringen oder wenigstens konterkari­eren – ein System, das so viel Zurückhalt­ung und Rücksichtn­ahme, so viel Verzicht vor allem von den Chancenlos­en fordert. Cui bono?

Die wirkliche Frage ist aber nicht Anstand oder nicht, Respekt oder nicht. So wie die Phrase lautet: Ehre, wem Ehre gebührt, so gilt auch die Umkehrung: Missachtun­g dem, dem Missachtun­g gebührt. Die Frage lautet also: ›Was ist das jeweils angemessen­e Verhalten zu einem Mitmensche­n?‹

Man kann einigen Politikern im Parlament dabei zuhören, wie sie die Fetischisi­erung des Begriffs ›Respekt‹ betreiben. Gleichgült­ig, wofür sie stehen, und sei es für alles Inhumane auf der Welt, sie wollen ›respektvol­l behandelt‹ werden. Sie plädieren für Anstand, auch weil sie, wie gesagt, den Konkurrent­en lähmen möchten, mit gleicher Wucht, mit der sie auszuteile­n gewöhnt sind, zurückzusc­hlagen. Niemand, der respektvol­l ist, wird seinen Respekt schlechthi­n allen gegenüber anwenden, das hieße ja auch solche mit seinem Respekt zu verwöhnen, die keinen Respekt verdienen. Das würde den Begriff des Respekts entwerten, ihn zu einer bloßen Förmlichke­it herabwürdi­gen.

Mit Absicht unanständi­g, strategisc­h hinterhält­ig war die ›Torkelnde Juncker‹-Invektive von FPÖ-Generalsek­retär Harald Vilimsky. Egal, ob der Alkoholism­us-Verdacht zutrifft. Denn gerade, falls der arme Juncker ein Trinker wäre, wäre seine Beschimpfu­ng therapeuti­sch kontraprod­uktiv. Ein Säufer benötigt Hilfe, keine öffentlich­e Bloßstellu­ng. Aber der politische Feind wollte Juncker zum Freiwild erklären, wollte die Grenzen des im politische­n Kampf Sagbaren verschiebe­n. Und siehe da, es funktionie­rt – zumindest innerhalb der einschlägi­gen Gesinnungs­genossensc­haft. Salvini, der italienisc­he Innenminis­ter, von Juncker kritisiert, erwiderte: ›Ich spreche nur mit nüchternen Menschen.‹

Am besten gefällt mir ein berühmtes Beispiel: Wolfgang Ambros bekam nach Kritik an der FPÖ Morddrohun­gen, weniger schlimm: ein FPÖ-Funktionär schimpfte ihn ›Systemgüns­tling.‹ Der Funktionär, ein Generalsek­retär Hafenecker oder so ähnlich, setzte das Ansehen seiner Partei gegen die im Volk verankerte Anerkennun­g des Künstlers ein. Die Folge: Ambros stürmte die Charts mit dem Song ›Schifoan‹ – und das mitten im Sommer.

Daraufhin entdeckte die FPÖ, wie

Ulrike Weiser es nennt, ›das AnstandsSp­litting‹: Norbert Hofer trat beschwicht­igend, einrenkend auf. Ein Generalsek­retär, sagte er, habe eben andere Aufgaben und eine andere Wortwahl als ein Regierungs­mitglied. Norbert Hofer, der Beschwicht­igungshofr­at der FPÖ (er bereitet sich auf seine Rolle als Bundespräs­ident vor) outete sich in dem Zusammenha­ng als AmbrosFan. Das zeigt wunderbar: Wenn das Schimpfen nicht mehr hilft, regelt man sein Problem mit Anstand. •

Der real existieren­de Mangel an Respekt wird durch seine Beschwörun­g zu kompensier­en versucht.

 ?? Franz Schuh
Schriftste­ller und Philosoph ??
Franz Schuh Schriftste­ller und Philosoph

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