Peter Apfl
Der Buchmarkt entdeckt die Schutzlosen und Abgehängten. Zu ihnen durchdringen kann er kaum.
war der erste in seiner Verwandtschaft, der aufs Gymnasium ging. Im Unterschied zu Didier Eribon, um den es in seiner Bücherstory geht, war ihm die Familie aber nie peinlich. Eher fremdelt er als Literaturwissenschaftler mit dem akademischen Milieu. Derzeit arbeitet Apfl an einem sprachwissenschaftlichen Buch über den Dialekt seiner niederösterreichischen Herkunftsgemeinde.
Wenn wir die Realität der sozialen Klassen leugnen und verdrängen, wird sie uns hinterrücks ereilen‹, sagte Didier Eribon im September 2018 der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, einem Blatt, dessen Abstand zu von den unteren sozialen Klassen präferierten Blättern denkbar groß ist. Eribon ist der Autor des Buches ›Rückkehr nach Reims‹ (›Retour à Reims‹), das 2009 im französischen Original erschien und in der deutschen Übersetzung 2016 ein Bestseller geworden ist, von dem mehr verkauft wurde als vom Original. Das hat seine Gründe darin, dass in der Zwischenzeit Erfolge populistisch genannter rechter Bewegungen Aufsehen erregten.
Eribon erzählt am Beispiel seiner Familie, wie sich das Klassenbewusstsein seines Herkunftsmilieus von links auf rechts gewendet hat. Er erklärt diese Tatsache mittels einer eingehenden soziologischen Analyse und bleibt dabei parteiisch – links. Eine der grundlegenden Fragen ist die folgende: An wen wenden und auf wen stützen sich ›die Ausgebeuteten und Schutzlosen, um politisch und kulturell zu existieren, um Stolz und Selbstachtung zu empfinden. Wer trägt der Tatsache Rechnung, dass sie existieren, dass sie leben, dass sie etwas denken und wollen.‹
Zwei Monate nach dem eingangs zitierten Interview hat den französischen Präsidenten die Realität der sozialen Klassen ereilt. Die Rede ist von den Protesten der sogenannten ›Gelbwesten‹ (gilets jaunes). Präsident Macron konnte oder wollte nicht vermitteln, dass es ihn interessiert, wie die Menschen der unteren soziale Klasse leben, was sie denken und wollen. Auf dem Cover der deutschen Ausgabe von ›Rückkehr nach Reims‹ wird ein anderer französischer Autor, Édouard Louis, zitiert mit den Worten, das Buch sei ›die wichtigste soziologische Arbeit seit Bourdieus »Die feinen Unterschiede«, es ist auch eines der sehr wenigen Bücher, die eine Revolte entzünden und den Lauf eines Lebens verändern können‹. Sollte Louis dies so gesagt haben, irrte er, denn die Revoltierenden werden in der überwiegenden Mehrzahl von dem Buch gar nicht gehört haben. Die Revolte entzündet hat die soziale Lage. Geholfen haben die sozialen Medien.
Édouard Louis, ein Schüler Eribons und erfolgreicher Autor einer mit ›Rückkehr‹ vergleichbaren Autobiografie, ›Das Ende von Eddy‹, schrieb Anfang Dezember auf Facebook und Twitter: ›Ich sah leidende Menschen, die durch die Arbeit, durch Müdigkeit, durch Hunger, durch die dauerhafte Demütigung durch die Herrschenden, durch soziale und geografische Ausgrenzung verwüstet wurden, ich sah müde Körper, müde Hände, geschundene Rücken, müde Blicke.‹ Am Beginn der Revolten habe er seinen Schmerz nicht ausdrücken können, denn diese Menschen ähnelten seiner Mutter, seinem Vater, seiner Tante, den Bewohnern des Dorfes seiner Kindheit, deren Gesundheit von Elend und Armut bis in die Gegenwart zerstört würde. Den Politikern und Medien warf Louis vor, die Gewalt gegen Sachen durch die Demonstranten hervorzuheben, aber von der Gewalt der Politik, die das Leben der Menschen zerstöre, zu schweigen.
Tatsächlich hatte schon Eribon in ›Rückkehr‹ von einem ›Krieg gegen die Beherrschten‹ geschrieben. Die ›Beherrschten‹ werden bei ihm mit zwei Attributen versehen: Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse und ›bildungsfern‹; darunter lassen sich klassische Lohnabhängige verstehen, die sich verdingen müssen, um leben zu können. Der offene ›Krieg‹ gegen sie hat laut Eribon mit der neokonservativen Wende begonnen, an der auch die sozialistische Linke beteiligt gewesen sei. ›Nicht mehr von Ausbeutung und Widerstand war die Rede, sondern von »notwendigen Reformen« und einer »Umgestaltung der Gesellschaft«. Nicht mehr von Klassenverhältnissen oder sozialem Schicksal, sondern von »Zusammenleben« und »Eigenverantwortung«.‹ So lässt sich auch die Kürzung von Sozialleistungen als ›sozial‹ beschreiben, weil es die Menschen ›stärker‹ mache, wie es der österreichische Bundeskanzler zu Jahresende 2018 beschrieb.
Hierzulande wie in Frankreich erfolgen eine Lockerung der Sozialgesetze und eine Privatisierung der einstigen staatlichen Aufgaben. ›Der Staat als Auftraggeber schuf in Zeiten des Wohlfühlkapitalismus eine Stabilität, die auch weniger wettbewerbsorientierte und leistungsbereite Menschen bescheiden aber sicher ernährte‹, schreibt der Kulturkritiker Georg Seeßlen in seinem 2018 erschienenen Buch ›Is this the End?‹
Nun könnte man sagen, die Beherrschten nagten ja nicht am Hungertuch, ja, sie verfügten sogar über gehörige Konsumgüter, und sie seien nicht mehr die Proletarier, die ›nichts mehr zu verlieren haben als ihre Ketten‹, wie es am Schluss des Kommunistischen Manifests heißt. In gewisser Weise sind diese Konsumgüter die neuen Ketten. Nicht zufällig entzündete sich der ›Gelbwesten‹-Zorn am Benzinpreis. (Nicht nur) in Frankreich ist die Infrastruktur im Zuge der neoliberalen Wende so ausgedünnt worden, dass das tägliche Leben ohne Auto kaum mehr zu bewältigen ist. Der Schriftsteller Ralf Bönt stellt hinsichtlich der Unruhen in Frankreich in der Frankfurter Allgemeinen im Dezember 2018 einen bemerkenswerten Konnex her: ›Die Idee, der Bevölkerung eine Steuer für die Produktion von Kohlendioxid zu oktroyieren, steht dem Protest in skandalöser Größe keineswegs nach. Sie übersteigt ihn sogar, wenn man bedenkt, dass die Industrie preiswertes, ökologisches Fahren seit je vorenthält. Das tut sie mit aktiver, und, so muss man sagen, mit aggressivster Unterstützung der Politik.‹ Freie Fahrt für freie Bürger, sozusagen.
Auf dem Cover von ›Rückkehr nach Reims‹ wird nicht zufällig Pierre Bourdieu erwähnt; Eribon ist Schüler des Soziologen, der insbesondere dafür bekannt ist, den Begriff ›Habitus‹ in die Sozialphilosophie eingeführt zu haben. Darunter versteht man das gesamte Auftreten einer Person, etwa den Lebensstil, die Sprache, die Kleidung und den Geschmack.
Der Habitus ist naturgemäß durch die gesellschaftliche Herkunftsklasse geformt, ist Produkt wechselseitigen Formens und Geformt-Werdens und legt den gesellschaftlichen Status eines Menschen fest. Das diesbezügliche Schlüsselwerk Bourdieus heißt denn auch ›Die feinen Unterschiede‹ (›La distinction. Critique sociale du jugement‹, 1979). Wenig überraschend hat der Autor so wie Eribon oder Louis die Klassenschranken durchbrochen, sein Vater war kleiner Postbeamter.
Didier Eribon beschreibt im Nachfolgeband zu ›Rückkehr‹, ›Gesellschaft als Urteil‹ (›La société comme verdict‹, 2013), die Entstehung eines Habitus wie folgt: ›Wenn man als Kind seine Ferien auf dem Landbesitz der Großeltern verbringt, wenn man übers Wochenende ins Landhaus der Eltern oder Geschwister fährt, resultiert daraus ein anderer Selbstbezug, ein anderer Bezug zur Welt und zu den anderen, als wenn man die Ferien im Ferienlager, mit den Eltern auf dem Campingplatz oder in einem Wohnmobil verbracht hat.‹ So weit, so banal. Bourdieu wurde in den ›Feinen Unterschieden‹ doch deutlich spezifischer. Speziell in Frankreich komme noch hinzu, so Eribon weiter, dass Mitglieder der herrschenden Klasse ihr Selbstverständnis und ihr Wir-Gefühl in bestimmten Schulen, den sogenannten grandes écoles, formen, was, so Eribon, ›eine tiefe, definitive Kluft zwischen denen herstellt, die diese Privilegien genießen, und denen, die irgendwo anders, an anderen Orten der sozialen Welt geboren sind.‹ Eben diese Kluft tritt in den ›Gelbwesten‹-Demonstrationen zutage. Insbesondere der französische Präsident hat des Öfteren mit Äußerungen bewiesen, dass er die Menschen jenseits des gesellschaftlichen Grabens einfach nicht verstehen kann.
Zur These vom ›Krieg gegen die Beherrschten‹ kommt Eribon bei Betrachtung eben dieser Benachteiligung der ›bildungsfernen‹ Klasse im Schulsystem. Unbestritten ist, dass eine der Aufgaben des Bildungssystems die sogenannte Allokation ist, also der Prozess, bei dem Menschen den verschiedenen Berufssparten zugewiesen werden. Aber für Eribon beruht diese Allokation gegenwärtig fast ausschließlich auf Selektion nach klassenspezifischen Kriterien. Eribon fragt mit Bourdieu, ›was die wirkliche Funktion eines Bildungssystems ist, das funktioniert, indem es während der Schulzeit die Kinder der Volks- und im geringen Ausmaß der Mittelklassen aus der Schule eliminiert.‹
Zur Folge hat diese Selektion, dass die Herkunftsfamilie Eribons, wie er selbst schreibt, sein Buch unmöglich verstehen könne, und wohl auch der Großteil der ›Gelbwesten‹ nicht. Wahrscheinlich haben sie auch noch nie davon gehört. Wer hat dann aber den Bestseller gekauft und gelesen? Wo wurde er diskutiert und besprochen?
›Rückkehr nach Reims‹ ist auf Deutsch im Mai 2016 erschienen, und Ende 2018 wird es auf der Website des Suhrkamp-Verlages unter den Longsellern der letzten fünf Jahre auf Platz 26 geführt. Als das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels im Jänner 2017 das Buch als Neueinsteiger ankündigte, fügte es hinzu: ›Der Titel wurde in sämtlichen wichtigen Literaturbeilagen besprochen.‹ Ganz sicher in keinen Beilagen von Blättern, die von den ›Beherrschten‹ gelesen werden.
Genau an diesem Punkt wird es enorm kompliziert. Das hat auch damit zu tun, dass in ›Zeiten der rechten Hegemonie taktisch und strategisch die volkstümliche gegen die elitäre Kultur ins Feld geführt wird.‹ Georg Seeßlen stellt dies fest, um hinzuzufügen, die ›Hochkultur‹ sei ein unverzichtbarer ›Speicher des Wissens‹, und sie werde in politischer Absicht als ›kompliziert und schwierig, prätentiös und hermetisch‹ dargestellt. Boulevardblätter leisten genau das, sind Teil einer populistischen Kultur, die von Menschen verantwortet und verwaltet wird, die
›sich persönlich eher den Ritualen der Hochkultur widmen‹, so Seeßlen. Diesen kommt es vielleicht gelegen, dass mit dem Verzicht auf die sogenannte Hochkultur en passant auch auf Fortschritt und Aufklärung verzichtet wird. ›Wenn ein Volksmusik-Fuzzi erklärt, seine Musik und seine Texte repräsentierten eben das Leben der »kleinen Leute«, von dem die intellektuellen Kritiker keine Ahnung hätten, dann lügt er nicht nur, sondern er konstruiert auch die kulturelle Basis für den Populismus. »Volkstümliche Unterhaltung« schuf die Basis als kulturelle Hegemonie für eine neo-völkische Bewegung in der Politik. Beides kommt nicht ohne die Konstruktion von Feindbildern aus, und sie ähneln sich erschreckend.‹ Georg Seeßlen schrieb dies lange bevor ein Volksmusik-Fuzzi Ende 2018 in der Wiener Stadthalle mit enormem Echo die Probe aufs Exempel machte. Es saßen ohne Zweifel überwiegend ›Beherrschte‹ im Publikum, als über die Angriffe des Fuzzis auf liberale Blätter gejubelt wurde. Auf solche, in deren Beilagen Bücher wie jene Eribons besprochen werden.
Erst im Nachfolgeband zu ›Rückkehr‹ setzt sich Eribon mit der ›kulturellen und intellektuellen Exklusion der populären Klassen‹ eingehender auseinander und deutet an, dass der ›Klassenhabitus der unteren Schichten und die aus ihm resultierenden Selbstprojektionen die bestehende Ordnung bestätigen und festigen‹, indem sie ›schulische Kultur und die Kultur des Lernens zurückweisen‹. Aber niemand ist gezwungen, möchte man hinzufügen, sich zum Beispiel in ›Tracht‹ gekleidet in schlechte Gesellschaft zu begeben. Und – weiter gedacht – auch nicht dazu, sich rechtsextremen Parteien anzuschließen oder diese zu wählen, weil man sich um ›Stolz und Selbstachtung‹ gebracht fühlt. Klassenzugehörigkeit mag Schicksal sein, der Hang zur Menschenverachtung ganz sicher nicht.
Georg Seeßlen wiederum schreibt, eine populäre Kultur, die sich als Gegenpol zur Hochkultur versteht, schneide ihre Adressaten von den ›großen Systemen Staat, Bildung, Wissenschaft etc.‹ und ihren Narrativen ab. ›Der schlimmste Fall ist jener Mensch, der sich in einer »volkstümlichen Unterhaltung« von der demokratischen Teilhabe abkapselt, um dann gegen eine Demokratie zu Felde zu ziehen, die ihm vermeintlich diese Teilhabe verweigere.‹
Umfragen in Frankreich zeigen, dass die rechtsextreme Partei Marine Le Pens eindeutig von den Gelbwesten-Unruhen profitiert und nur ein geringer Teil der Protestierenden aus Arbeitern besteht. Wenn also Édouard Louis sich eines Pathos bedient, das in bürgerlichen Blättern auch schon als ›revolutionärer Kitsch‹ bezeichnet wurde, aus dem sich eine Authentizitätsbehauptung ableite, wurde er möglicherweise von marodierenden mittelständischen Le-Pen-Wählern mit Abstiegsängsten dazu verleitet.
Es bleibt also kompliziert. So hat es auch schon ein Protagonist im Film ›Dazed and Confused‹ von Richard Linklater (1993) gesehen, der erzählt, dass er geplant habe, nach dem Schulabschluss Bürgerrechtsanwalt zu werden. Dann habe er aber beim Anstellen auf der Post Leute, denen er helfen wollte, kennengelernt und kam zur Erkenntnis, dass er sie eigentlich schrecklich finde.
Mitte Jänner 2019 scheinen sich die Gelbwesten in Richtung populistische, rechte Bewegung zu entwickeln, die unterschiedslose Ablehnung der etablierten Presse und gewalttätige Angriffe auf Journalisten lassen darauf schließen. Viele Gelbwesten ›informieren‹ sich angeblich nur mehr bei RT France, dem französischen Ableger von Russia Today, einem Sender, der Ressentimentbedürfnisse bedient und nur scheinbar der Tatsache Rechnung trägt, dass die Ausgebeuteten und Schutzlosen existieren. •