Wolfgang Zwander
Karl Renner war der österreichischste aller Politiker. Das macht seine Beurteilung heute so schwierig.
faszinierte an Karl Renner, wie dieser Sohn verarmter südmährischer Bauern in einem Leben zwei Republiken gründen konnte. Aus einer ursprünglich für akademische Zwecke erfolgten Recherche entstand so ein datum-Porträt über den Politiker. Zwander arbeitete als Journalist für den Falter und Die Zeit, war danach Pressesprecher von Doris Bures und Christian Kern und arbeitet heute als Sprecher für die Wiener Wohnbau- und Frauenstadträtin Kathrin Gaál.
Als die Rote Armee am 29. März 1945 die großdeutsche Grenze im Burgenland überschreitet, beginnt ein gewaltiger Poker um Österreich. Ein Wettbewerb zwischen Ost und West, zwischen alten und neuen politischen Lagern um Macht, Einfluss und Führungsposten. Für den 74-jährigen Karl Renner war an diesem Spieltisch der Weltpolitik eigentlich kein Platz mehr vorgesehen. Und niemand, außer womöglich er selbst, hätte wohl auch nur eine Sekunde lang daran gedacht, dass Renner aus diesem Machtpoker nur wenige Wochen später als Sieger hervorgehen wird.
Von allen großen österreichischen Politikern im 20. Jahrhundert war Karl Renner wohl der österreichischste. Im Positiven wie im Negativen. Wer sich heute mit dem zweifachen Begründer der österreichischen Demokratie beschäftigt, hat es trotz seiner unleugbaren Leistungen mit einem umstrittenen Mann zu tun. Das wurde auch im vergangenen Gedenkjahr sichtbar. Die Biografie keines zweiten Politikers ist mit den großen aktuellen Jahrestagen so eng verwoben wie die von Karl Renner. Hundert Jahre Republik, hundert Jahre Wahl der ersten Nationalversammlung, hundert Jahre Unterzeichnung des Staatsvertrages von St. Germain. Aber auch 80 Jahre sogenannter ›Anschluss‹ an NS-Deutschland. Überall war Renner nicht nur dabei, sondern mittendrin.
›Renner dachte zweifellos stets in Mehrheiten‹, schreibt der Historiker Walter Rauscher: ›Gegen den politischen Strom zu schwimmen, fiel ihm sehr schwer, und so war er eben auch konsensbereit bis zur Selbstaufgabe seiner Ideale, wandlungsfähig und anpassungsfähig. Ich meine, gerade das ist es auch, was ihn so ganz typisch österreichisch macht.‹
›Ein Mann für alle Jahreszeiten‹ sei Renner gewesen, schreibt wiederum der Politologe Anton Pelinka, und er helfe dabei, Österreich zu verstehen: ›Renner war deutschnational und zugleich österreichisch-patriotisch. Er war gegen und für den Anschluss an Hitler-Deutschland. Er rühmte die Sowjetunion und den »werten Genossen Stalin« und beglückwünschte dennoch Adolf Schärf zum unbedingten Antikommunismus der SPÖ. Er war ein Revisionist, der sich auf Karl Marx berief, und er konnte offenkundig nicht verstehen, dass diese Haltung als unauflöslicher Widerspruch erscheinen musste.‹
Renners ideologische Wendigkeit erwies sich jedenfalls als her- vorragende Fassade, um dahinter geschickt Realpolitik zu machen. Er gleiche dem ›Eingeweihten‹ bei Karl Kraus, schreibt Pelinka weiter über Renner: ›Er zeigt Österreich und den Österreichern die Hintertür, die es ermöglicht, den Nachteilen, den Härten der österreichischen Geschichte auszuweichen.‹ Den Nachteilen und Härten der Geschichte ausweichen. Besser könnte man Renners politisches Meisterstück am Ende des Zweiten Weltkriegs wahrscheinlich nicht beschreiben.
Dabei
war Karl Renner 1945 eigentlich schon ein Mann der Vergangenheit. Geboren 1870 als 17. oder 18. Kind verarmter südmährischer Bauern (ob er oder sein Zwillingsbruder zuerst auf der Welt war, wusste bald niemand mehr genau), war Renner voll und ganz ein Mann der Monarchie. Nicht die Republik, sondern das Reich der Habsburger prägte sein Denken und den Großteil seines Lebens. Seine Autobiografie nannte er 1946 dann auch ›An der Wende zweier Zeiten.‹
Renner lernte als Kind schnell und gut, besuchte das Gymnasium, erhielt exzellente Beurteilungen und bekam über das Geben von privater Nachhilfe Appetit auf die bürgerliche Welt, die ihn in ihrer Ungerechtigkeit aber auch abschreckte. Fürs Jus-Studium zog er ohne Geld in der Tasche nach Wien, lernte seine spätere Frau Luise bei der Zimmersuche kennen, wurde mit 21 Vater einer Tochter und nahm einen Job in der Bibliothek des Parlaments an, weil er dort viel zum Lesen und Schreiben kam. Sein ganzes weiteres Leben lang veröffentlichte Renner eine fast unglaubliche Menge an Texten, natürlich über Politik, aber auch Lyrik oder Werke über Rechtstheorie und Soziologie, die auf ihrem Gebiet teilweise bis heute als bahnbrechend gelten.
Während des Studiums schloss sich Renner der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei an, wohl auch als Reaktion auf das Schicksal seiner Eltern, die ihren Bauernhof verloren hatten und im Armenhaus verstorben waren. Renner erwies sich schnell als leidenschaftlicher Politiker. Lehrend und vortragend war er an der Basis aktiv, zog 1907 in den Reichsrat ein, war Mitbegründer der Naturfreunde und gründete eine Bank, die die sozialdemokratischen Genossenschaften von den bürgerlichen Banken unabhängiger machte. Mit den Genossenschaftern baute er sich auch eine Machtbasis auf.
Renner, als 17. oder 18. Kind armer Bauern geboren, war ein Mann der Monarchie.
Bereits in den letzten Jahren des Kaiserreichs galt Renner als Kandidat für den Posten des Staatskanzlers. Seine Politik zielte bis zum Zerfall des k.u.k. Staates darauf ab, die Monarchie zu retten. Als diese dennoch zerfiel, legte er seine Pläne zur Rettung des Vielvölkerreiches beiseite, gründete als Staatskanzler die Erste Republik, verhandelte für Österreich in Saint-Germain und diente später als Parlamentspräsident. Meist um Ausgleich, Mäßigung und Dialog bemüht, war er ein klassischer Vertreter des rechten Flügels der Sozialdemokratie.
Dementsprechend schlecht war sein Ruf beim linken Flügel der Partei. Unter Leuten wie Renner sei die Sozialdemokratie immer mehr ›verchristlichsozialisiert, nationalisiert und verkleinbürgerlicht‹, wetterte Friedrich Adler, der Sohn des Parteigründers Viktor Adler. Renners wiederum recht eindeutige Sicht auf die linken Ideologen rund um Adler junior und Otto Bauer erfährt man in seinem Bericht von einem Treffen mit Ignaz Seipel, dem erzkonservativen Bundeskanzler der Christlich-Sozialen: Seipel fragte Renner, warum dieser glaube, dass er, Seipel, sich so gut mit dem linken Sozialdemokraten Otto Bauer verstehe, aber so schlecht mit Renner. Die Antwort Renners: Weil Sie wie er ein Dogmatiker sind. Sollte die Geschichte nicht wahr sein, wurde sie von Renner zumindest gut erfunden.
Als Engelbert Dollfuß und die Christlich-Sozialen 1933 Parlament und Demokratie ausschalteten, schien Renners politische Zeit vorbei. Er durfte sich glücklich schätzen, dass er die kommenden zwölf Jahre – anders als viele seiner Genossen – überhaupt überlebte.
Am
12. Februar 1934 brach der österreichische Bürgerkrieg aus; Polizei, Militär und Heimwehr machten mit dem sozialdemokratischen Schutzbund kurzen Prozess. Renner wurde zum Staatsfeind, verhaftet und für hundert Tage im Wiener Landesgericht eingesperrt. In der Folge entkam er einer Verurteilung wegen Hochverrats, musste sich aber in sein Haus in die niederösterreichische Provinz zurückziehen. Auch die NS-Zeit verbrachte er in Gloggnitz unter Hausarrest. Relativ unbeschwert; vermutlich, weil er sich in einem vom NS-Staat autorisierten Interview zwar von den Methoden der Nazis distanzierte, zugleich aber ankündigte, bei der Volksabstimmung über den ›Anschluss‹ mit Ja zu stimmen.
Als zu Kriegsende Sowjet-Truppen in seiner Heimatgemeinde standen, war Renner im Greisenalter, gesundheitlich angeschlagen, politisch isoliert und auch weitgehend vergessen. Und Stalin hatte zu diesem Zeitpunkt – ganz dem damaligen Sowjet-Muster folgend – bereits seine Nachrichtendienste beauftragt, geeignete Exil-Kommunisten auszuwählen und in Machtpositionen zu hieven, um möglichst noch vor dem Eintreffen der Westalliierten in Wien Fakten zu schaffen.
Für Stalins Kommunisten war Renner ein Fossil, ein verbürgerlichter Sozialdemokrat, den niemand auf der Rechnung haben musste. Ein Fehler, der sich als erster von vielen Fehlern der Kommunisten erweisen sollte.
Nach elf Jahren im privaten Exil witterte der noch immer polithungrige Renner seine große Chance zur Rückkehr auf die politische Bühne. Am 3. April 1945 wandte er sich an die in Gloggnitz geschaffene sowjetische Ortskommandantur, stellte sich als ehemaliger Regierungschef von Österreich vor und bot seine Dienste bei der Wiederherstellung der Republik an. Zwischen Roter Armee und Wehrmacht tobte da noch die Schlacht um Wien.
Die sowjetischen Militärs waren sich erst nicht sicher, was sie mit dem alten Mann anfangen sollten (›ein stattlicher Greis in strengem schwarzem Anzug‹, so ihr erster Eindruck). Doch sie behandelten ihn freundlich, befragten ihn über die Stimmung in der Bevölkerung und luden ihn ein, im sowjetischen Quartier zu übernachten. Am nächsten Tag wurde er nach Hochwolkersdorf gebracht, wo ihn eine ›überraschende Anzahl hoher Offiziere‹, so Renners spätere Erinnerung, empfing.
Die Militärs telegrafierten an Stalin: ›Bis zu Ihren Anweisungen wird sich Doktor Renner in unserer Verfügungsgewalt befinden. Bitte um Ihre Weisungen.‹ Laut Berichten soll Stalin nach der Meldung aus Österreich erstaunt geäußert haben: ›Wie, der alte Verräter lebt noch immer? Er ist genau der Mann, den wir brauchen.‹
Was auch immer Stalin konkret gesagt und gedacht hat, am 4. April um 19:30 Uhr Moskauer Zeit traf Rückmeldung vom roten Zaren aus dem Kreml ein: Karl Renner sei ›Vertrauen zu erweisen‹ und zu erklären, dass ihn ›das Kommando der sowjetischen Truppen in der Sache der Wiederherstellung des demokratischen Regimes in Österreich unterstützen‹ werde.
Mit dem grünen Licht aus Moskau konnte Renner dreieinhalb Wochen später einen gewaltigen
Für Stalins Kommunisten war Renner ein Fossil. Eine schwere Fehleinschätzung.
Etappensieg verbuchen: Am 27. April 1945 erkannten die Sowjets in ihrem Befehlsbereich die neu gebildete provisorische österreichische Regierung unter seiner Führung an. Unter strengster Geheimhaltung wurden in einer Villa in Hietzing Regierungsverhandlungen geführt. SPÖ, ÖVP und KPÖ erklärten Österreich für unabhängig, den ›Anschluss‹ an Deutschland für nichtig und verkündeten die Wiederherstellung der Republik im Geiste der Verfassung von 1920 (die seinerzeit vom Staatsrechtler Hans Kelsen just im persönlichen Auftrag von Renner ausgearbeitet worden war). Der
Journalist Hellmut Andics erinnerte an diese ersten Tage der Zweiten Republik so: ›Die schäbige Aktentasche, die Renner auch am 29. April 1945 vom Rathaus zum Parlament schleppte, war das Requisit seiner politischen Genialität: Wenn sich die anderen an den Beratungstisch setzten, konnte er aus dieser Aktentasche immer schon die fertigen Gesetzesentwürfe auf die Tischplatte legen.‹ Noch fehlte die Unterstützung der Westalliierten für Renners Regierung, aber er war endgültig an den Tisch der Macht zurückgekehrt. In diesen für Österreich so entscheidenden Tagen konnte Renner sein Blatt so instinktsicher ausspielen, weil er damals bereits von einer außergewöhnlichen Laufbahn als Spitzenpolitiker zehrte. So konnte er es selbst mit Stalin aufnehmen, weil er es schon Jahrzehnte zuvor mit Politikern wie Lenin zu tun gehabt hatte, der Renner immer wieder des ›Verrats‹ an der Arbeiterklasse bezichtigt hatte.
›Stalin hat gedacht, er kann Renner manipulieren. Und Renner hat gedacht, er kann Stalin manipulieren‹, sagt Anton Pelinka; und vom Ergebnis her habe eher Renner Stalin manipuliert als umgekehrt: ›Österreich ist sehr erfolgreich dem Sog der Sowjetunion entkommen. Und das war natürlich Renners Intention.‹
Die britische Zeitung Observer schrieb 1949, ein Jahr vor Renners Tod: ›Er schien gerade der Mann zu sein, den die Russen benötigten: alt, sehr alt, sehr beliebt, lange nicht mehr in Berührung mit der praktischen Politik, eine Verbindung mit der Vergangenheit, eine respektable Fassade für eine Volksfront-Regierung, die rasch von einigen jungen, energischen Kommunisten erobert werden würde. Aber diesmal hatten die Russen den falschen Mann ausgewählt. Renner war mild, freundlich und verbindlich, auch bereit, einige Ministerposten den Kommunisten zu überlassen, aber durchaus befähigt, die Zügel in den eigenen Händen zu behalten.‹
Renner hatte 1945 nichts mehr zu verlieren und warf sein ganzes Können in den Ring. Er vereinte in sich Wissen, Bildung und Intellekt; Mut, Leidenschaft und Tatkraft; Ehrgeiz, Erfahrung und Routine. Eigenschaften und Fähigkeiten, die ihn erneut zum Vater der Republik werden ließen. Aber diese Aufzählung seiner Stärken wäre unvollständig,