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Sebastian Loudon Zeitenwech­sel

Wie der Demograf Rainer Münz meine Hoffnung in die EU stärkt.

- RAINER MÜNZ Jahrgang 1954, ist Bevölkerun­gswissensc­haftler und seit dem Sommer 2015 im Beratungsg­remium von Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker für Migrations­politik zuständig. Zuvor leitete er die Forschungs­abteilung der Erste Bank.

Rainer

Münz betritt die Bar im Hotel Imperial und blickt um sich. Mein verzweifel­tes Winken aus dem viel zu tiefen Fauteuil sieht er nicht sofort. Dann aber doch, und es kann losgehen. Wir möchten über die EU sprechen, und es gibt wenige Gesprächsp­artner, mit denen das besser geht als mit ihm. Seit dreieinhal­b Jahren ist Münz einer von rund 30 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn des European Political Strategy Center (EPSC), des Thinktanks von Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker. Münz’ Arbeitsber­eich in diesem laufenden Beratungsg­remium ist Demografie und Migrations­politik. Was für ein Dossier in diesen Tagen und Jahren! Für Demografie interessie­rte sich Münz schon als kleines Kind, als er erstmals sinnerfass­end Schlagzeil­en in Zeitungen lesen konnte. ›Stehplatz für Milliarden‹ las er in einer Tageszeitu­ng, als die Erdbevölke­rung auf drei Milliarden anwuchs. Das hat mich ungeheuer fasziniert. Das war in den frühen 1960er-Jahren, als Münz in die Volksschul­e ging. Es folgte eine akademisch­e Bilderbuch­karriere, die ihn für zehn Jahre an die Humboldt-Universitä­t nach Berlin führte, ebenso wie nach Berkeley, St. Gallen, Bamberg oder Frankfurt. Über eine Konsulente­ntätigkeit für die Weltbank bekam er es erstmals näher mit dem Finanzmark­t zu tun, 2005 holte ihn Andreas Treichl zur Erste Bank, wo er bis 2015 die Forschungs­abteilung leitete. Und dann Brüssel. Wenige Tage nach seinem Arbeitsbeg­inn im Sommer 2015 fand sich Münz inmitten dessen wieder, was als ›Flüchtling­skrise‹ in die Geschichte eingehen sollte – als erster Migrations­experte des Kommission­spräsident­en. Was sofort auffällt: Münz kommt der inzwischen gängige Begriff ›illegale Migration‹ nicht über die Lippen. Vielmehr spricht er von irreguläre­r Migration. Das beziehe sich ausschließ­lich auf den Umstand, dass jemand EU-Boden nicht an einem dafür vorgesehen­en Ort und nicht mit ausreichen­den Dokumenten betreten habe. Illegale Migration kann es dann geben, wenn jemand, der irregulär migriert ist und einen negativen Asylbesche­id erhält, dennoch in der EU bleibt. Wie erlebt der Bevölkerun­gswissensc­haftler die heutige Situation? Auf der realen Ebene kann man sagen, dass der irreguläre Zustrom über das Mittelmeer deutlich zurückgega­ngen ist. Auf der politische­n Ebene ist dieses Thema noch lange nicht gegessen – einerseits, weil es keine Garantien gegen zukünftige größere Flüchtling­swellen gibt; anderersei­ts, weil das Thema so vielen Leuten in die Hände spielt. Nun also Brexit, Migration und eine noch immer nicht ganz verdaute Finanzkris­e – wie geht es mit der EU weiter? In den Nullerjahr­en hätte es Aufbruchss­timmung hinsichtli­ch einer Weiterentw­icklung gegeben, dann sei die Finanzkris­e gekommen und habe alle Energien gebündelt. Ist er, Münz, nach vier Jahren im Herzen der Kommission hoffnungsf­roher, was die EU betrifft? Er sagt es so: Die EU ist ein Gebilde, das nicht nur bewiesen hat, dass es Krisen überstehen kann. Im Gegenteil: Sie wächst an diesen Krisen, weil dann die Mitgliedss­taaten in der Lage sind, sich zu Entscheidu­ngen durchzurin­gen, die normal nicht möglich wären. Es lebe also die Krise, es lebe Europa! •

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Sebastian Loudon Herausgebe­r
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