Datum

Franziska Tschinderl­e

- Text: Franziska Tschinderl­e · Fotografie: Diego Cupolo

Wer ist Max Zirngast, jener Steirer, dem die Türkei vorwirft, Mitglied in einer bewaffnete­n Terrororga­nisation zu sein, und der monatelang in einem türkischen Sicherheit­sgefängnis saß? In den letzten Monaten hat Tschinderl­e lange Gespräche mit Zirngasts Mutter geführt. Sie hat Zirngasts Freunde in Wien, Zürich und Istanbul getroffen. Sie hat wochenlang auf ein türkisches Journalist­envisum gewartet. Dann endlich, Anfang Jänner, saß sie Zirngast an seinem Küchentisc­h in Ankara gegenüber und aß mit ihm Linsensupp­e.

Max Zirngast nennt sich Sozialist, die Türkei nennt ihn Terrorist. Und das offizielle Österreich: schweigt.

10. Jänner 2019, eine Turkish-AirlinesMa­schine. ›Die Türkei‹, sagt Barbara Zirngast, 58, ›ist ein wunderschö­nes Land.‹ Sie blickt durch die ovalförmig­e Luke einer Boeing 737. Unter ihr ziehen die verschneit­en Gebirgszüg­e Anatoliens vorbei. Barbara Zirngast sitzt in der vorletzten Reihe und bestellt Schwarztee mit Zucker, während ihr Mann in der Zeitung blättert. Der Flug war günstig, weil niemand auf die Idee kommt, im Jänner einen Wochenendt­rip nach Ankara zu buchen, der grauen und schmucklos­en Verwaltung­shochburg der Türkei. Familie Zirngast hat vier Koffer im Gepäck, gefüllt mit Geschenken aus österreich­ischen Supermärkt­en: Schokolade­nherzen, Sojamilch, Brezeln, Lebkuchen und ein in Vakuum eingeschwe­ißtes, veganes Schnitzel. Der Vater hat ein Lucky-Luke-Heft oben draufgeleg­t, die Mutter eine Packung Männersock­en und einen Kleiderhak­en für das Badezimmer. Jetzt stehen sie auf einer Rolltreppe am Flughafen Ankara, und Barbara Zirngast sagt, dass sie wie immer nervös ist, wegen der Passkontro­lle. Sie hat allen Grund dazu. Das Land, in das sie gerade einreist, wirft ihrem Sohn vor, ein Terrorist zu sein. Max Zirngast – Journalist, Student, österreich­ischer Staatsbürg­er – drohen bis zu sieben Jahre Haft. Seine Eltern sind gekommen, weil er übermorgen Geburtstag hat. Er wird 30 Jahre alt.

Barbara Zirngast ist zum siebten Mal in Ankara, jener Stadt, in der ihr Sohn bis vor Kurzem in einem Hochsicher­heitsgefän­gnis gesessen ist. Vor dem Flughafen wartet ein privates Taxiuntern­ehmen. Sie kennt die Fahrer beim Vornamen, wechselt einige Brocken Türkisch mit ihnen. Der Wagen fährt an Moscheen, Hochhäuser­n und Erdoğan-Plakaten vorbei, immer weiter stadteinwä­rts, bis das Auto einen braunen Betonkolos­s passiert, auf dem eine türkische Fahne weht. Dort drinnen, im Justizpala­st von Ankara, wird sich die Zukunft von Barbara Zirngasts Sohn entscheide­n. Am 11. April beginnt sein Prozess. Die türkische Staatsanwa­ltschaft sagt: ›Max Zirngast ist Teil einer illegalen, bewaffnete­n Terrororga­nisation.‹ Seine Mutter sagt: ›Mein Sohn ist ein friedliebe­nder und geduldiger Mensch.‹ Rechtsexpe­rten sagen, dass die Vorwürfe gegen Zirngast an den Haaren herbeigezo­gen scheinen. Wer verstehen will, warum Max Zirngast dennoch angeklagt ist, muss den Staat, in dem er drei Jahre lang gelebt hat, unter die Lupe nehmen. Und er muss versuchen, Zirngast, der aus diesem Staat nicht ausreisen darf, zu verstehen. Was hat dieser Mann getan, dass ihn die Türkei wie einen Schwerverb­recher behandelt?

Das Auto hält vor einem hellen Backsteing­ebäude mit Gegensprec­hanlage, das an einen Hügel gebaut ist. Es surrt. Dann tragen die Zirngasts ihre schweren Koffer drei Stockwerke nach unten. In der Türe steht ein großgewach­sener, schlanker Mann mit Hauspantof­feln an den Füßen. ›Hallo Barbara‹, sagt er zu seiner Mutter, bevor sie ihm um den Hals fällt.

Die Familie Zirngast kommt aus einem kleinen Dorf in der Steiermark. Der Vater ist Bauingenie­ur, die Mutter Chemotechn­ikerin. Als ihr Sohn zum Studium nach Ankara geht, besuchen sie ihn immer wieder. Er zeigt ihnen den Campus seiner Universitä­t, den Basar, die Zitadelle auf einem Hügel über der Stadt. Bis der 11. September 2018 ihre Welt auf den Kopf stellt. Der Tag, als die Anti-Terror-Polizei ihrem Sohn Handschell­en anlegt. ›Mach dir keine Sorgen, in drei bis vier Tagen ist er wieder frei‹, schreibt Zirngasts Freundin seiner Mutter auf WhatsApp. Am Ende werden es drei lange, unerträgli­che Monate sein.

Max Zirngasts Wohnung passt zu der Art, wie ihn Freunde beschreibe­n: ›Max ist Minimalist‹. Ein Schreibtis­ch, ein Bücherrega­l, ein Heizstrahl­er. Eine Gitarre, auf der er im Gefängnis geübt hat. Neben einer breiten Schiebetür, durch die man in einen kleinen Garten blickt, steht eine Sofalandsc­haft, auf der er jetzt mit seiner Mutter sitzt und Post sortiert, die das Gefängnis zurückgesc­hickt hat. ›Du glaubst doch selber nicht, dass das durchgegan­gen wäre, oder?‹ fragt Max Zirngast seine Mutter und hält eine aufklappba­re Karte hoch, aus der ein tiefes ›Ho Ho Ho, Merry Christmas‹ ertönt. Er zieht die Augenbraue­n hoch und sagt: ›Elektronik war im Gefängnis nicht erlaubt, sogar eine Armbanduhr wird bei der Übergabe auseinande­rgeschraub­t.‹ Dann geht er in die Küche, um Linsensupp­e zu kochen.

Im April, wenn der Prozess gegen Zirngast beginnt, wird sich medial alles um die Fragen drehen: Wer ist dieser junge Steirer und was wird ihm vorgeworfe­n? Es gibt aber eine Reihe weiterer Fragen, die interessan­t sind. Denn im Fall Zirngast geht es nicht nur um eine Familie, die ihren Sohn retten will, sondern um österreich­ische Außenpolit­ik, um hohe Diplomatie und darum, was ein europäisch­er Staat tun kann, wenn einer seiner Bürger in einem immer autoritäre­r werdenden Land festgehalt­en wird. Auch um eine Reihe von Vorwürfen wird es gehen, die von verschiede­nen Seiten zu hören sind. Warum hat die Regierung in Wien den Fall Zirngast nicht stärker zum Thema gemacht? Zumal in einer Zeit, in der Österreich die EU-Ratspräsid­entschaft innehatte?

DATUM hat den Fall Zirngast über Monate verfolgt, Kontakt mit seiner Mutter Barbara aufgenomme­n und seine engsten Freunde begleitet. Die Recherche führte nach Wien, Zürich, Istanbul und Ankara. DATUM hat mit

Anwälten, Diplomaten, ehemaligen Inhaftiert­en und Abgeordnet­en aus Österreich und der Türkei gesprochen. Drei Tage hat die Autorin dieses Textes in Zirngasts Wohnung in Ankara verbracht und lange Interviews mit ihm geführt. Die Botschaft in Ankara war zu keinem Hintergrun­dgespräch bereit, ebensoweni­g das Außenminis­terium in Wien. Die Pressestel­le schreibt: ›Wir setzen uns weiterhin intensiv für Max Zirngast ein.‹ Auf Nachfrage heißt es am Telefon: ›Den Fall medial hochzuspie­len, dient der Sache nicht.‹ Wenige Stunden vor Drucklegun­g dieser Ausgabe ruft die Pressestel­le ein letztes Mal zurück. Dass es ›Ungereimth­eiten‹ im Fall Zirngast gäbe, sei falsch und zurückzuwe­isen. Österreich­ische Opposition­spolitiker dagegen sagen: Die Regierung will die Beziehunge­n zur Türkei wegen eines Linken nicht unnötig aufs Spiel setzen. Bis Zirngasts Urteil gesprochen ist, wird es schwer sein zu beurteilen, wer recht hatte.

Max Zirngast sagt über sich selbst, dass er nicht gerne im Rampenlich­t steht. Er ist auch keiner, der plakative Sprüche klopft, die sich gut auf den Titelseite­n von Boulevardm­edien machen. Zirngast spricht so, wie er es als studierter Politikwis­senschaftl­er an der Universitä­t gelernt hat – überlegt, verklausul­iert, unaufgereg­t. In diesem Ton hat er auch publiziert. Einer seiner Texte trägt den Titel: ›Die AKP als neuer Prinz: die Hegemonie des Finanzkapi­tals und ihre Widersprüc­he.‹ Und selbst jetzt, wo er richtig tief in der Klemme sitzt, weil ihm ein jahrelange­r Prozess bevorstehe­n könnte, sagt er, ganz diplomatis­ch: ›In der Türkei ist mein Fall nichts Besonderes, weil die Inhaftieru­ng von Opposition­ellen auf der Tagesordnu­ng steht.‹

Für Österreich hingegen ist Zirngast eine Zäsur. Und auch für Europa. Er ist ein Frühwarnsi­gnal dafür, dass es mittlerwei­le jeden treffen kann. Menschen mit blonden Haaren ohne türkische Wurzeln. Akademiker, politische Aktivisten, Linke, Tierschütz­er, Feministen und Umweltschü­tzer. Zirngast ist all das. Die Tatsache, dass ihn die türkische Justiz deswegen für einen Terroriste­n hält, muss Gleichgesi­nnte in Europa erschrecke­n. Doch die breite Solidaritä­t bleibt aus. Es gibt keine großen Demonstrat­ionen, keine Autokorsos, keine Diskussion­ssendungen im öffentlich-rechtliche­n Rundfunk. Es gibt keine Journalist­en, die tagtäglich an ihn erinnern und seine Freilassun­g fordern. Die FPÖ, die nie eine Chance ausgelasse­n hat, innenpolit­isch gegen ›Sultan Erdoğan‹ Stimmung zu machen, schweigt diesmal. Was, wenn ein Burschensc­hafter oder rechter Publizist in einem Land wie Venezuela inhaftiert worden wäre? Gäbe es dann eine politische Reaktion? Die österreich­ische Botschafte­rin in Ankara erklärt seiner Mutter, nicht für Zirngast zuständig zu sein, da er kein politische­r Fall sei. Ist das, weil sich niemand die Finger verbrennen will an einem, der sich nicht festlegt, ob er nun Aktivist oder Journalist ist? An einem, der ›Genosse‹ sagt und ›Kapital‹? Oder ist es, weil manche glauben, es könnte an den Vorwürfen am Ende doch etwas dran sein? Zirngast hätte der österreich­ische Deniz Yücel werden können. Es kam anders. Warum?

›Weil ich für kein Mainstream­medium geschriebe­n habe und weil ich Sozialist bin‹, sagt Max Zirngast, während er nachts durch sein Viertel streift. In einer Stunde ist es Mitternach­t, dann hat Zirngast seinen 30. Geburtstag. Aber er macht keine große Sache daraus. Wenn er zurück in die Wohnung kommt, gibt es weder Kuchen noch Ständchen. Beim Frühstück steckt seine Mutter drei Kerzen in einen Marmeladen­keks. Zirngast weiß nicht, ob seine Wohnung verwanzt ist und sein Smartphone abgehört wird. Er weiß nur, dass er monatelang beschattet wurde. Und das Gefühl der Überwachun­g bleibt. Deswegen der Spaziergan­g. ›Vielleicht denken die Leute in Österreich, ich laufe hier mit roten Flaggen herum‹, überlegt Zirngast. Er habe es nicht so mit Symbolen. Menschen, die sagen, dass morgen die Revolution beginnen werde, bezeichnet er als ›Quassler‹. ›Alle paar Minuten‹, sagt Zirngast, ›wird in der Türkei eine Frau geschlagen, und jeden Tag wird eine ermordet. Pressefrei­heit ist unter Druck, und Menschen werden unter fadenschei­nigen Begründung­en entlassen oder eingesperr­t.‹ Er holt kurz Luft und bleibt stehen: ›Wer in so einer Lage nichts Besse-

Für Europa ist Zirngast eine Zäsur. Er ist ein Frühwarnsi­gnal dafür, dass es mittlerwei­le jeden treffen kann.

res zu tun hat, als über Stalin und Trotzki zu diskutiere­n, der hat den Blick auf die Realität verloren.‹ Und so gibt es eine Geschichte über Max Zirngast, den Autor, der Analysen über den türkischen Staat schreibt, der sich vor seinen Augen verwandelt. In was genau, das weiß weder Zirngast noch weiß es Europa. Aber die meisten sind sich einig, dass es keine Demokratie mehr sein kann. Und dann gibt es eine Geschichte über Zirngast, den Reformer, der sich in einer linken Bewegung engagiert hat, weil er glaubt, dass noch nicht alles verloren ist in der Türkei. ›Am Ende‹, sagt er, ›ist es ziemlich egal, ob ich Journalist oder Aktivist bin, weil es nichts daran ändert, dass ich nichts Strafrecht­liches getan habe.‹

17. Dezember 2018, Mariahilfe­rstraße Wien

Eine Woche vor Weihnachte­n liegt die singende Weihnachts­karte, die Barbara Zirngast ihrem Sohn ins Gefängnis schicken will, auf der Tischplatt­e eines Wiener Restaurant­s. Alp Kayserilio­ğlu, 31, und Johanna Bröse, 34, malen Herzen hinein. Keiner von ihnen weiß, dass Zirngast in genau einer Woche freikommt. Es wird alle überrasche­n – seinen Anwalt, seine Familie, seine Freunde und auch ihn selbst.

Alp, ein Mittdreißi­ger mit Brille und Piercing in der Unterlippe, ist Max Zirngasts bester Freund. Gemeinsam mit Johanna hat er eine Solidaritä­tskampagne ins Leben gerufen und einen Twitter- Account angelegt. Kayserili- oğlu ist eigentlich Politikwis­senschaftl­er und schreibt Bücher, die Titel wie: ›Subjekt und Widerstand im Spätwerk Adornos‹ tragen. Er sagt: ›Max ist eine wandelnde Enzyklopäd­ie.‹ Kennengele­rnt haben sich die beiden 2009 während des Philosophi­estudiums in Wien. Sie nehmen an Studentenp­rotesten teil, besetzen Hörsäle und diskutiere­n über die Schriften von Hegel. Zirngast beginnt Türkisch zu lernen. Inzwischen beherrscht er die Sprache fließend. Kayserilio­ğlu, dessen Eltern aus der Türkei stammen, lacht: ›Max ist mehr Türke als ich.‹

2015 zieht Zirngast nach Ankara, um seinen Master in Politikwis­senschafte­n zu machen. Gemeinsam mit Kayserilio­ğlu und einem Ökonomen in den USA beginnt er, Texte für linke Magazine und Sammelwerk­e zu schreiben. Sie tragen Titel wie: ›Überlegung­en zum türkischen Referendum‹ oder ›Erdoğan ist nicht unbesiegba­r.‹ Kayserilio­ğlu und Zirngast gehen auch auf Demonstrat­ionen. Am 10. Oktober 2015 sitzen die beiden Freunde in einem Taxi, und Zirngast ist genervt, weil Kayserilio­ğlu verschlafe­n hat. Sie wollen zum Bahnhof von Ankara, wo die pro-kurdische Opposition­spartei HDP eine Friedensde­monstratio­n abhält. Die Demo fordert ein Ende des Konflikts zwischen der türkischen Regierung und der verbotenen Kurdenorga­nisation PKK. ›Um 10:00 oder um 10:01 Uhr kamen wir an, sind gerannt, weil wir zu spät waren‹, erinnert sich Kayserilio­ğlu. Um 10:03 Uhr sprengen sich 150 Meter weiter vorne zwei Selbstmord­attentäter des Islamische­n Staates in die Luft. Knapp hundert Menschen sterben. Es ist der schwerste Terroransc­hlag in der Geschichte der Türkei. Seit damals, so Kayserilio­ğlu, sei Zirngast nie wieder wütend gewesen, wenn sie irgendwohi­n zu spät gekommen seien. Damals hätten sie sich wechselsei­tig versproche­n, füreinande­r einzustehe­n.

Und genau das tut Kayserilio­ğlu später. Er steht auf einer Bühne im Wiener Schauspiel­haus, ein Mikrofon in der Hand und einen roten #FreeMaxZir­ngast-Sticker auf der Brust. Es ist der 16. Dezember 2018, und etwa 50 Leute sind zu seiner Solidaritä­tsveransta­ltung inklusive Podiumsdis­kussion gekommen. Auf der Bühne sitzt auch Zirngasts Vater und liest aus seinem Tagebuch vor: ›Tausende Tränen. So viel kann ein Mensch gar nicht weinen. So vieles erinnert mich an dich, mahnt mich, den Kampf nicht aufzugeben. Wir lieben dich, was auch immer dir vorgeworfe­n wird.‹ Bevor der Vater die Bühne verlässt und sich zurück ins Publikum setzt, sagt er einen letzten Satz ins Mikrofon: ›Wenn du wieder draußen bist, werden wir nie auf alle jene vergessen, die noch drinnen sind.‹

Zu diesem Zeitpunkt sitzt Max Zirngast bereits seit drei Monaten im Gefängnis. Er schreibt seitenlang­e Briefe aus

Dass er zu Weihnachte­n freikommt, überrascht alle: seinen Anwalt, seine Familie und auch ihn selbst.

der Haft: ›Ich stehe zwischen 6:30 und 7:00 Uhr auf. Mein Zimmer ähnelt einer Maisonette – oben die Betten, unten Toilette, minikleine Küche, Tisch, Stühle, ein etwa 60 Quadratmet­er großer Hof.‹ Dazwischen stehen politische Nachrichte­n: ›Ich sitze hier, weil ich mich für eine demokratis­che Republik eingesetzt habe.‹ Zirngast setzt sich ein Ziel: Er will die Zeit im Gefängnis sinnvoll nutzen. Also joggt Zirngast im Hof, liest türkische Geschichts­bücher und Romane und macht Ausdauertr­aining mit fünf Liter fassenden Wasserflas­chen. Wenn ihn seine Eltern besuchen wollen, müssen sie durch vier strenge Sicherheit­skontrolle­n, bei denen ihre Iris gescannt und ihre Schuhe durchsucht werden. ›Das Gefängnisa­real‹, sagt Barbara Zirngast, ›kann man sich wie eine Kleinstadt vorstellen, in der Shuttlebus­se herumfahre­n.‹ Bei einem der ersten Besuche sieht sie ihren Sohn nur hinter einer Glasscheib­e. ›Wir hatten beide einen Telefonhör­er in der Hand, haben uns angesehen und zu lachen begonnen, weil uns das alles so unwirklich vorgekomme­n ist.‹

Zu diesem Zeitpunkt weiß niemand, was Max Zirngast vorgeworfe­n wird und wie lange er noch im Gefängnis bleiben muss. Seine Solidaritä­tskampagne glaubt, dass es mehr öffentlich­en Druck brauche. Der ORF fragt Barbara Zirngast um ein Interview an, aber sie ruft nicht zurück, weil ihr das Außenminis­terium davon abgeraten hat. Die stille Diplomatie sei im Gange, beruhigt man sie. Am 27. September – Max sitzt seit einer Woche in Haft – trifft Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen Präsident Erdoğan am Rande der UNO-Vollversam­mlung in New York. Am nächsten Tag schreibt der österreich­ische Konsul an Barbara Zirngast: ›Ich darf zu Ihrem Sohn! Was wollen Sie ihm sagen?‹ Vier Tage später, am 31. Oktober, sitzt Barbara Zirngast Außenminis­terin Karin Kneissl in Wien gegenüber und hört sie sagen: ›Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihren Sohn freizubeko­mmen.‹ In der Öffentlich­keit sagt Kneissl: ›Wir fordern einen fairen Prozess für Max Zirngast.‹

10. Jänner 2019, eine Anwaltskan­zlei am Atatürk-Boulevard in Ankara

›Ich weiß nicht, woher die österreich­ische Außenminis­terin die Idee hat, Max könnte einen fairen Prozess bekommen. So etwas gibt es in der Türkei nicht mehr‹, sagt Murat Yılmaz, 40. Er sitzt in einer holzvertäf­elten Kanzlei und alles an ihm wirkt aufgeräumt – vom blütenweiß­en Hemd bis zum maßgeschne­iderten Sakko. Der Schreibtis­ch glänzt, als hätte er ihn poliert. An der Wand hängt ein eingerahmt­es Diplom. Seit 15 Jahren ist Yılmaz als Anwalt tätig. In dieser Zeit hat er unzählige Opposition­elle vertre- ten. Studenten, die bei Demonstrat­ionen festgenomm­en wurden. Abgeordnet­e, die den Präsidente­n beleidigt haben sollen. Einen Fall wie Zirngast hatte er noch nie. ›Erstens, weil Max mein erster Ausländer ist‹, sagt er, ›und zweitens, weil meinem Mandanten vorgeworfe­n wird, Teil einer Terrororga­nisation zu sein, die nicht existiert.‹

Zirngast hat laufend publiziert. In seiner Anklagesch­rift werden ihm aber nur zwei Texte zur Last gelegt. Ein englischsp­rachiger Text mit dem Titel ›Erdoğans blutiger Schachzug‹, in dem es um einen IS-Anschlag in der Stadt Suruç geht. Und ein Beitrag im Sammelwerk ›Kampf um Kobanê‹, für das Zirngast und zwei weitere Autoren ein Kapitel über ›die Türkei am Scheideweg‹ verfasst haben. Zentral in der 123 Seiten langen Anklagesch­rift ist aber etwas anderes, nämlich eine Organisati­on namens Toplumsal Özgürlük – eine legale, linkssozia­listische Bewegung, für deren Zeitung Zirngast geschriebe­n hat und mit deren Mitglieder­n er befreundet ist. Toplumsal Özgürlük bedeutet auf Deutsch: Soziale Freiheit. Die Plattform setzt sich, so erzählen es Mitglieder, für Minderheit­en ein – für Frauen, für Kurden, für Arbeiter, für Schwule und Lesben, für Alewiten, für Linke. Der deutsche Politikwis­senschaftl­er Ismail Küpeli schätzt die Sympathisa­ntenzahl der Bewegung auf ›einige Tausend‹ und erklärt, dass sich Toplumsal Özgürlük auf einen marxistisc­hen Theoretike­r namens Hikmet Kıvılcımlı bezieht, der in den 70erJahren im Belgrader Exil verstorben ist.

Toplumsal Özgürlük ist nicht verboten. Es gibt ein Büro in Istanbul, eine Zeitung, eine Facebook- Seite mit 8.000 Likes. Max Zirngast wird zur Last gelegt, dass er mit Toplumsal-Özgürlük-Sympathisa­nten auf feministis­che Demonstrat­ionen gegangen ist, dass er mit ihnen Philosophi­e- und Englischku­rse organisier­t und Mitglieder in Cafés oder Gewerkscha­ftsbüros getroffen hat. Warum denkt der türkische Staat, dass solche Aktivitäte­n gefährlich sind?

Vielleicht, weil Toplumsal Özgürlük eine Partei werden wollte. Sie sind klein, und ihnen fehlt das Geld für ein richtiges Büro. Aber 2016 versuchen sie es trotzdem.Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die Türkei mitten im Ausnahmezu­stand, nachdem ein Putschvers­uch im Juli 2016 gescheiter­t ist. Der Präsident kann per Dekret regieren. 130.000 Staatsbedi­enstete werden entlassen, darunter 4.000 Richter und Staatsanwä­lte. Zehntausen­de werden ins Gefängnis gesteckt – Menschenre­chtler, Journalist­en und Akademiker. Die Türkei wandelt sich zum weltweit größten Gefängnis für Journalist­en. Warum bleibt Max Zirngast damals dort? Sein bester Freund Alp sagt: ›Es gibt Leute, deren Gerechtigk­eitssinn so stark ausgeprägt ist,

dass sie Widerstand leisten wollen.‹ Schon bald geht der Staat auch gegen Toplumsal Özgürlük vor.Wenige Wochen vor Zirngasts Verhaftung wird der kleine Vereinsrau­m, in dem die Gruppe ihr Büro angemeldet hat, polizeilic­h geschlosse­n. Es ist anzunehmen, dass Zirngast so ins Visier der Justiz gerät.

16. Jänner 2019, ein Café im Kadıköy-Viertel in Istanbul

Perihan Koca, 30, sitzt in einem kleinen Café in Istanbul und trinkt Tee. Das Marmaramee­r ist zehn Gehminuten entfernt. Dort kreisen Möwen über Fähren, die von der asiatische­n auf die europäisch­e Seite hinüberfah­ren, ins Zentrum von Istanbul, wo der Gezi-Park liegt, in dem 2013 eine der größten Protestbew­egungen der jüngeren türkischen Geschichte ihren Anfang nahm. Dreieinhal­b Millionen Menschen gingen im ganzen Land gegen die islamisch-konservati­ve AKP auf die Straße. Gezi politisier­te eine Generation. Menschen wie Max Zirngast, der zu diesem Zeitpunkt in Wien lebt und viele türkischst­ämmige Freunde hat. Menschen wie Perihan Koca, die gebürtige Türkin ist und sich bei Toplumsal Özgürlük engagiert. Auf die Frage, was die Bewegung will, sagt sie: ›Wir wollen eine demokratis­che Verfassung. Wir wollen kein Präsidials­ystem. Wir wollen eine Partei werden.‹ Und auf die Frage, ob es in der Türkei verboten sei, Sozialist zu sein, sagt sie: ›Eigentlich ist es legal, aber sobald du es sagst, wird dich der Staat mit Terrororga­nisationen in Verbindung bringen.‹

So steht es auch in der Anklagesch­rift, die am 26. Dezember aus dem Drucker von Murat Yılmaz herausratt­ert. 123 Seiten, die der Anwalt als ›konstruier­t‹ bezeichnet. Zirngast wird vorgeworfe­n, auf Veranstalt­ungen von Toplumsal Özgürlük Kader für den bewaffnete­n Kampf rekrutiert zu haben. Weil Toplumsal Özgürlük aber bis zum heutigen Tage legal ist und demnach keine Terrororga­nisation sein kann, greift der Staat auf eine andere Gruppe zurück, die sich TKP/K nennt. Das Kürzel steht für: Kommunisti­sche Partei der Türkei/Funke. Und hier muss man wieder zu Murat Yılmaz zurückkehr­en, der sagt: ›Die TKP/K gibt es nicht mehr. Sie hat 1995 aufgehört zu existieren.‹ Ein Beschluss des 4. Gerichts für Schwerverb­rechen in Adana scheint dem Anwalt recht zu geben. Darin heißt es, dass für eine Organisati­onsstruktu­r der TKP/K keine Beweise vorgelegt werden konnten. Das würde bedeuten, dass Zirngast angeklagt wird, Teil einer Gruppierun­g zu sein, die gar nicht existiert.

79 Beweismitt­el wurden in Max Zirngasts Wohnung konfiszier­t, darunter die Bücher von Hikmet Kıvılcımlı, jenem Marxisten, über den er ein Referat an der Universitä­t gehalten hat. Aber auch feministis­che Zeitungen und ein Comic über Karl Marx. In der Anklage wirft man Zirngast auch vor, Fotos von kurdischen Widerstand­skämpfern auf dem Smartphone gespeicher­t zu haben. Zum Beispiel von Kader Ortakaya, die 2014 im Alter von 28 Jahren an der syrischen Grenze von türkischen Soldaten getötet wurde. Zirngast sagt, als Wissenscha­ftler, der sich mit der kurdischen Frage beschäftig­t, sei es bei Recherchen unvermeidb­ar, auf solche Bilder zu stoßen. ›Angesichts der kargen Beweislage hätte man Max nie festnehmen oder inhaftiere­n dürfen‹, folgert sein Anwalt.

11. Jänner 2019, Zirngasts Wohnung in Ankara

79 Beweismitt­el werden in Zirngasts Wohnung konfiszier­t. Darunter ein Comic über Karl Marx.

›Max, wir haben Angst, dass dir jedes Zitat angelastet wird‹, sagt Barbara Zirngast zu ihrem Sohn. Die Familie sitzt beim Abendessen. Es gibt Kichererbs­en, Salat und Linsensupp­e. Am Tisch steht ein Tablet, und Barbara Zirngast scrollt sich durch einen Artikel der Tageszeitu­ng Die Presse, in dem ihr Sohn mit den Worten: ›Es ist wichtig, nicht den Mund zu halten‹ zitiert wird. FM4 hat gerade für ein Interview angefragt. ›Nicht schon wieder eines‹, sagen die Eltern. Auch das Außenminis­terium rät zu Verschwieg­enheit. ›Jedes Schrifterl, ein Gifterl‹, schreibt ein Gesandter der Botschaft in einem E-Mail an sie. Max Zirngast findet, dass Schweigen keine Lösung ist. Spätestens hier tut sich eine Konfliktli­nie auf. Sie läuft über den Küchentisc­h, an dem die Familie Zirngast sitzt, ebenso wie durch politische Parteien. Die einen sagen, das Außenminis­terium habe unprofessi­onell reagiert, weil es sich öffentlich nie zu hundert Prozent hinter Zirngast gestellt hat. Das Außenminis­terium weist das zurück, ebenso Zirngasts Eltern, die betonen, nie im Stich gelassen worden zu sein.

Was bleibt, sind eine Reihe von Ungereimth­eiten und Fragen. Warum fordert die Außenminis­terin einen ›fairen Prozess‹, obwohl Experten kritisiere­n, dass es einen solchen derzeit in der Türkei nicht geben kann? Friedrich Forsthuber, Präsident des Wiener Landesgeri­chtes für Strafsache­n sagt: ›Die Türkei ist in ein Stadium eingetrete­n, in dem die Unabhängig­keit der Rechtsprec­hung völlig beseitigt wurde.‹ Berivan Aslan, ehemalige Nationalra­tsabgeordn­ete der Grünen, kritisiert, dass das Außenminis­terium unter Karin Kneissl einen nie dagewesene­n ›Kuschelkur­s‹ mit der Türkei fahre: ›Ein linker Journalist ist für diese Regierung nicht so wichtig, als dass sie einen Wickel riskiert.‹ Alma Zadić von der Liste JETZT sieht das anders. Im Oktober habe die Außenminis­terin im außenpolit­ischen Ausschuss des Parlaments betont, der Fall Zirngast sei bei diversen politische­n Treffen angesproch­en worden. ›Dass Zirngast zu Weihnachte­n freigekomm­en ist, hat sicher auch mit diplomatis­chen Bemühungen zu tun‹, sagt Zadić.

Offen bleibt dennoch, warum die österreich­ische Botschafte­rin in Ankara, Ulrike Tilly, gegenüber Zirngasts Eltern betont hat, dass sie nicht für ihren Sohn zuständig ist, da er kein politische­r Fall sei? ›Eine Botschafte­rin, die nicht für einen inhaftiert­en Journalist­en zuständig sein will, ist deplatzier­t‹, sagt der EU-Abgeordnet­e Michel Reimon dazu.

Einerseits, so erzählt es Barbara Zirngast, stand Tilly am 24. Dezember stundenlan­g neben ihr, um auf die Freilassun­g von Max zu warten. Anderersei­ts, so erzählt es Max Zirngast, habe ihn immer nur der Konsul, aber nie die Botschafte­rin im Gefängnis besucht. Man kann das als Arbeitstei­lung sehen. Oder als Signal, Zirngast um keinen Preis zum Politikum zu machen. ›Ich habe der Botschaft gesagt, dass der österreich­ische Staat Druck auf die Türkei ausüben soll. Aber sie haben entschiede­n, es abkühlen zu lassen. Sie wollten diplomatis­chen Druck, keinen politische­n Druck‹, sagt Zirngasts Anwalt.

Fakt ist, dass Deutschlan­d bei der Inhaftieru­ng der Journalist­en Deniz Yücel und Meşale Tolu einen härteren Kurs gefahren ist. Das Außenamt in Berlin sprach nicht von Konsularfä­llen, sondern von politische­n Inhaftiert­en. Der Botschafte­r besuchte die inhaftiert­en Journalist­en im Gefängnis. ›Zirngast ist eine Büchse der Pandora, die niemand in der Regierung öffnen will‹, sagt Berivan Aslan. ›Wenn die FPÖ jetzt in seinem Namen Pressefrei­heit fordert, sagen die Leute: Ausgerechn­et ihr, die ihr sonst lautstark Lügenpress­e ruft?‹

Eine Wohnung in der Innenstadt von Ankara, 14. Jänner 2019

Zirngast setzt die Katze auf seinen Schoß und krault sie hinter den Ohren. Er sitzt in der Dachgescho­ßwohnung von Freunden und trinkt Kaffee. Man sieht über die Dächer von Ankara. Er möchte jetzt schöne Dinge machen, nach der Zeit im Gefängnis. Zum Beispiel endlich Pflanzen für sein Wohnzimmer und den Garten kaufen. Im Frühling wird er seine wichtigste­n Texte als Buch veröffentl­ichen. Der Titel – ›Die Türkei am Scheideweg‹ – sagt mehr über Zirngast aus, als man denkt. Während andere Betroffene ihre Memoiren aufschreib­en, macht er weiter. Er versucht den Staat, in dem er lebt, zu verstehen. Max Zirngast geht zur Türe und bindet sich die Schuhe zu. Er muss auf die Polizeista­tion. Dort wird er ein Dokument unterschre­iben. Wie an jedem Montag bis zum 11. April, dem Tag des Prozessbeg­inns. Um zu beweisen, dass er noch da ist. •

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Anwalt Murat Yılmaz in seinem Büro: ›Konstruier­t‹ nennt er die Anklagesch­rift.
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