Ein Meister des Fliegenbeine-Kritzelns
Yoko Ono in der Kunsthalle Krems Fotografie, Krieg, Stille, Präzision: Der französische Nobelpreisträger Claude Simon suchte in seinem Werk das Zusammenspiel von sprachlichem und bildnerischem Ausdruck. Eine Würdigung anlässlich seines 100. Geburtstags
Wien – Es war eine Straße in Flandern, die zur Urszene wurde und zum Urtrauma im Leben des Franzosen Claude Simon. 1940 wurde seine Kavallerieeinheit auf einer Straße in Flandern von deutschen Fliegern angegriffen. Er überlebte als Einziger, geriet in Kriegsgefangenschaft. Konnte dann ins heimische Perpignan in Südfrankreich fliehen, und als ihn die Nazi-hörige Vichy-Regierung dort dingfest machen wollte, schlug er sich nach Paris durch.
Da musste Simon, dessen Vater zehn Monate nach seiner Geburt gefallen war, der mit elf Jahren Vollwaise geworden war und dann in einem Internat aufwuchs, noch ein Dutzend Jahre warten, bis ihm, als Mittvierziger, erste literarische Anerkennung zuteilwurde. Bald erschienen in rascher Abfolge die reifen Romane: Der Wind 1957, Das Gras 1958, Die Straße von Flandern 1959. Geschichte von 1967 brachte bereits im Titel die Poetik dieses Autors auf den Punkt: Geschichte als Erinnerung, Geschichte als Rückholung, Geschichte als Abfolge einzelner gedehnter, eingefrorener Gedächtnismomente und gebannter Erinnerungssplitter.
Die Straße von Flandern, in dem er mit peinigender Intensität die Schrecken und Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs umkreist, wollte er ursprünglich „Description fragmentaire d’un désastre“nennen, Fragmente einer Beschreibung eines Desasters. Leben wur- de ihm zum Schreiben, er strebte danach, das Chaos des Erlebten und Überlebten, das Katastrophische vor der Zersplitterung, der Auflösung und dem unwiderruflichen Vergessen zu überführen in die strenge Ordnung und in die Logik einer klaren, dabei barocken Sprache. Augenblicksbilder, sehr häufig familiengeschichtlich oder autobiografisch inspiriert, werden nebeneinandergereiht.
Und es hat den Anschein, als schriebe Simon 50 Jahre lang an einem Buch: „Im Allgemeinen beginne ich einen neuen Roman mit dem, was in den vorangegangenen nicht gesagt werden konnte.“Denn in seinen späten Arbeiten wie Triptychon (1973), Georgica (1981), Die Akazie (1989) oder Die Trambahn (2002) treibt er dieses Beschreibungsmuster, dieses insistierende Umkreisen, zur Perfektion: die Suche nach dem einzig richtigen Wort, dem wirklich realistischen Ausdruck für den einen Moment.
Kameraauge, das registriert
Claude Simons erzählerisches Werk liegt in Frankreich seit diesem Jahr in zwei umfangreichen Bänden in der Bibliothèque Pleïade vor und hat damit in den Parnass der modernen Klassiker Eingang gefunden. Auf Deutsch gibt es bei DuMont sechs große Romane in einer Kassette. Seine Technik war die eines scheinbar neutralen Kameraauges, das registriert, das aufnimmt und das Aufgenommene wiedergibt. Selbst war er, der in den 1930er-Jahren die moderne Kunst entdeckte und Malkurse belegte, auch leidenschaftlicher Fotograf, das zeigt der soeben erschienene schöne Band Archipel|Nord. Kleine Schriften und Fotografien (Matthes & Seitz, Berlin, 176 Seiten, € 23,60).
Ähnlich wie beim Salzburger Walter Kappacher gibt es bei Simon ein faszinierendes Widerspiel von Visuellem und Sprachlichem. 1967 sagte Simon, mit wohldosierter Ironie, er wäre eigentlich statt Schriftsteller lieber Maler geworden oder Jockey. Das hätte ihn glücklich gemacht. Und das Schreiben nicht? – Lediglich indirekt, es sei „ein Vergnügen zweiten Grades. Letztlich kritzelt man Fliegenbeine aufs Papier, das ist nicht zu vergleichen mit dieser unmittelbaren, sinnlichen Freude, wenn man Rot oder Grün auf die Leinwand aufträgt.“
1985 wurde ihm, Autor von 16 Romanen, der Nobelpreis für Literatur zugesprochen; damit sollte auch der französische „nouveau roman“gewürdigt werden, auch wenn er sich dieser Gruppierung selbst nie so ganz zugehörig fühlte. Am 6. Juli 2005 starb Claude Simon 91-jährig in Paris.
Im Roman Anschauungsunterricht von 1974 war zu lesen: „Die Wolken am Himmel (...) verfärben sich langsam, von falb- nach lachsfarben, dann zu einem Rosa, das bald nur noch spurenweise in dem (...) Grau fortbesteht, während sich gleichzeitig ihre Formen mit unendlicher Langsamkeit verändern. Einen Augenblick lang grün, schließlich blauviolett, erlischt der Himmel allmählich.“
Schon 1947 hatte Simon geschrieben, „dass man niemals dahin kommen wird, sich an dieser prunkvollen Herrlichkeit der Welt sattzusehen, vorausgesetzt, dass es gelingt, sich ihrer bewusst zu werden“.