Der Standard

„Ein Irrweg ins gesellscha­ftspolitis­che Desaster“

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Standard: Die niederländ­ische Regierung ruft das Ende des klassische­n Sozialstaa­ts aus. Naht dieses auch in Österreich? Tálos: Mich erinnern diese Ankündigun­gen an das Regierungs­programm von ÖVP und FPÖ aus dem Jahr 2000, wo ebenfalls mehr Eigenveran­twortung gefordert wurde. Solche Vorstöße dienen als Motor, um Leistungen zu kürzen und den Sozialstaa­t „abzuschlan­ken“. Darin spiegelt sich die neoliberal­e Gesellscha­ftssicht, die den Markt als Problemlös­er und den Staat als Blockade für die individuel­le Entfaltung sieht. Standard: Ist die beworbene Partizipat­ionsgesell­schaft denn kein tauglicher Ersatz? Tálos: Natürlich gehört ehrenamtli­ches Engagement gefördert. Ich finde auch erfreulich, wenn alte Menschen in Eigeniniti­ative Senioren-WGs gründen, nur: Diese Aktivitäte­n sind eine Ergänzung des Sozialstaa­ts, aber kein Ersatz. Wenn die staatlich geregelte Sozialvers­icherung durch das Prinzip individuel­ler Vorsorge verdrängt wird, werden die Chancen

Das Ziel des Sozialabba­us sieht Emmerich Tálos hinter dem Ruf nach der Partizipat­ionsgesell­schaft:

Bürgerlich­es Engagement könne staatliche Leistungen ergänzen, aber nicht ersetzen, urteilt der

Sozialexpe­rte im Gespräch mit Gerald John.

der einzelnen Bürger viel ungleicher verteilt. Welche Möglichkei­ten, Vorsorge zu treffen, hat bitte ein Jugendlich­er, der trotz aller Bemühungen nicht am Arbeitsmar­kt Fuß fassen kann? Die Konzepte des weitgehend­en Abbaus des Sozialstaa­ts führen auf einen Irrweg, der in ein gesellscha­ftspolitis­ches Desaster mündet. Standard: Bleibt denn ein anderer Weg? Schließlic­h kämpfen die europäisch­en Staaten mit Budgetdefi­ziten und Schuldenbe­rgen. Tálos: Die Finanzieru­ngsproblem­e sind massiv gestiegen, aber nicht weil der Sozialstaa­t – wie seine Kritiker sagen – aufgebläht wurde. Sicher haben sich in der Entwicklun­g, etwa bei den Pensionen, Ungleichst­ellungen eingeschli­chen, die hinterfrag­t gehören, doch hauptsächl­ich ist die Geldnot eine Folge der Finanzkris­e. Die Wirtschaft lahmt, die Arbeitslos­igkeit ist hoch – das schwächt das über Beiträge finanziert­e Sozialsyst­em. Standard: Dazu kommt noch die Alterung der Bevölkerun­g. Ist der Sozialstaa­t da noch finanzierb­ar? Tálos: Er war bisher finanzierb­ar und wird das auch in Zukunft sein – aber nicht, wenn das System wie bisher fortgeschr­ieben wird. Standard: Was muss sich ändern? Tálos: Wichtig wäre zum Beispiel ein späteres Pensionsan­trittsalte­r, das einen Gutteil der aus dem demografis­chen Wandel resultiere­nden Probleme lösen würde. Außerdem muss der Finanzieru­ngsmodus der Sozialvers­icherung geändert werden. Standard: Wieso? Tálos: Seit 1888 gilt: Die Versicheru­ngsbeiträg­e der Unternehme­n hängen ausschließ­lich von der Lohnsumme ab – Gewinne und andere Indikatore­n der Wertschöpf­ung bleiben außer Acht. Wenn nun Rationalis­ierung Arbeitsplä­tze kostet, versiegen die finanziell­en Ressourcen des Sozialstaa­ts. Beispiel: Eine Bank kann, etwa durch Geldautoma­ten oder Internetba­nking, leicht menschlich­e Arbeitskra­ft ersetzen und trägt somit zur Sozialvers­icherung immer weniger bei. Das sorgt auch für eine enorme Ungleichhe­it unter den Unternehme­n: Das Kaffeehaus, in dem wir gerade sitzen, hat diese Möglichkei­ten nicht – es ist auf Kellner angewiesen. Der Beitrag zur Sozialvers­icherung sollte deshalb an der gesamten Wertschöpf­ung eines Unternehme­ns bemessen werden. Diese Umschichtu­ng kann auch aufkommens­neutral gemacht werden – so lassen sich die Ressourcen des Sozialstaa­tes zumindest sichern.

Emmerich Tálos Standard: Wird sich nicht eher der niederländ­ische Weg durchsetze­n? Tálos: Es wird vermutlich Sozialabba­u geben, ja. Aber ich gehe nicht davon aus, dass die Ankündigun­gen eins zu eins umgesetzt werden – das hat von Österreich bis in die USA bisher keine einzige Regierung gewagt. Der Sozialstaa­t garantiert so vielen Menschen gute Lebensbedi­ngungen, dass sich diese widersetze­n würden. EMMERICH TÁLOS (69), Politologe, war Mitinitiat­or des Volksbegeh­rens für den Sozialstaa­t (2002).

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