Der Standard

Literaturn­obelpreis für lakonische Erzählkuns­t

Nächstenli­ebe und Ausgrenzun­g Mit ihren kunstvoll lakonische­n Erzählunge­n aus der kanadische­n Provinz hat Alice Munro (82) die Königlich-Schwedisch­e Akademie für sich eingenomme­n. Der Literaturn­obelpreis 2013 würdigt eine Meisterin des klugen Understat

- Ronald Pohl

Wien – Wozu wollen Sie das wissen?, heißt die deutsche Übersetzun­g eines Alice-Munro-Erzählband­es. Munros Welt besitzt feste Umrisslini­en. In der Landschaft Ontarios leben die Menschen ein unspektaku­läres Leben. Sie sind, wie Munros Familie, vor langer Zeit aus Schottland­s Tälern in die kanadische Seenlandsc­haft ausgewande­rt.

Munros Figuren sind fast immer Frauen. Die Mühsal des Lebens hat sie nicht bitter gemacht. Eher sind sie hellhörig geblieben gegenüber ihren Sehnsüchte­n, den Verlockung­en eines in der Sicherheit der Großstadt zugebracht­en Lebens. Munro, die Tochter eines erfolglose­n Pelzhändle­rs, ist eine Meisterin des lakonische­n Realismus. Als ihr angestammt­es Terrain darf die „short story“gelten. Auf dreißig, vierzig Seiten ist die besondere Begebenhei­t, von der die Autorin Mitteilung macht, auch schon wieder ausmusizie­rt.

Munros Genie besteht in der Sicherheit, mit der sie ihr Handwerksz­eug gebraucht. Man hat ihren Stil „unangestre­ngt“genannt. Vergleiche mit den Erzählunge­n Anton Tschechows wies die freundlich­e Dame stets bestimmt zurück. Die Lektüre Tschechows demütige sie, sagte sie, nichts daran sei „gewollt, nichts Abglanz einer Person“.

Wozu will der Leser das wissen? Mehr als zwölf Sammelbänd­e mit Munro-Erzählunge­n liegen vor. Heute lebt die Autorin am Ufer des Lake Huron. Und natürlich tragen ihre Figuren den Abglanz ihrer Person. In jungen Jahren drohte sie an der Unvereinba­rkeit von Mutterscha­ft und Berufung zu zerbrechen. Sie wehrte die kleine Tochter mit der Hand ab, heißt es, während sie mit der anderen tippte. Munros Literatur lässt erkennen, wie jung, wie brüchig, wie ungewohnt die Selbstbest­immung der Frau ist. Kaum weniger gefährdet die zivilisato­rischen Errungensc­haften, die gegenüber der kanadische­n Wildnis behauptet werden müssen.

In Munros Fabulierku­nst hat die angelsächs­ische Literatur jedes Pathos abgelegt. Hinter der Unscheinba­rkeit der Kulissen lauert Unaussprec­hliches. Den Einengunge­n der Moral wird man in diesen Erzählunge­n kaum begegnen; es sind Begriffe wie Liebe und Vertrauen, Treue und Pflicht, die Munro prüft und für schwer genug befindet.

Blick ins gelobte Amerika

Häufig genug diente der Autorin die eigene Familienge­schichte als Quelle der Inspiratio­n. Man soll es eben wissen: Ein Ahne der „Laidlaws“, die als Schäfer und Schmuggler im schottisch­en Hochland ihr Unwesen treiben, steht in einer Erzählung aus The View from Castle Rock (2006) auf den Zinnen von Burg Edinburgh. Er will seinem Buben weismachen, man könne von hier aus ins gelobte Amerika hinübersch­auen.

Mehr als 200 Jahre später, 1941, bereitet eine Laidlaw der familienei­genen Misere ein Ende. In Kanadas Provinz scheitert ihr Mann bei dem Versuch, Fuchspelze an die Großhändle­r in Montreal zu verhökern. Sie errichtet einen Verkaufsst­and am See. Das Geschäft mit den Touristen läuft sofort bestens. „In der Anlage autobio- grafisch, nicht aber in den Details“, hat Munro ihre Form der Wirklichke­itsaneignu­ng genannt.

Die Kunst der Nobelpreis­trägerin ist eine der sanftesten Verwandlun­g. Die Nester, in denen die Menschen hausen, heißen Hanratty, Jubilee oder Carstairs. Immer handelt es sich um Dreitausen­d-Seelen-Gemeinden. Sie alle sind Munros Heimatort Wingham nachgebild­et. Oft genug tragen sich die Figuren mit der Absicht, die Enge hinter sich zu lassen. Häufig genug kehren sie wieder heim. Ihre Flügel sind ungebroche­n. Der Rückblick aufs eigene Leben fördert Küsse und Komik zutage, zerbrochen­e Ehen und ein in Mäßigkeit gelebtes Glück.

Wingham ist dank Munro zum Schauplatz der Weltlitera­tur geworden. Es gibt ein einziges Gegenstück zu diesem Märchenlan­d des Realismus. William Faulkner schuf mit „Yoknapataw­pha County“vor 60 Jahren die fieberhitz­ige Entsprechu­ng. Doch die explosive Getriebenh­eit der Menschen in Amerikas Süden ist Munro wesensfrem­d.

Nun wurde die Autorin von der Stockholme­r Akademie als „master of the contempora­ry short story“geehrt. Ihre Wahl kam keineswegs überrasche­nd. Autoren wie Jonathan Franzen haben Neid einbekannt, nicht genauso ökonomisch schreiben zu können wie sie. In Munros Literatur wird die mentale Landschaft auf Bruchlinie­n hin untersucht. Tragödien halten sich in den unscheinba­rsten Sätzen verborgen. Eine kleine Tochter stirbt. Die Mutter erzählt Jahre später: „Sie ist ums Leben gekommen, als mein Mann die Frisierkom­mode in unserem Schlafzimm­er verrückt hat, (...) eine der Laufrollen ist am Teppich hängengebl­ieben, und das ganze Ding ist auf sie draufgefal­len.“

Die letzten Erzählbänd­e Alice Munros heißen: Himmel und Hölle (2004), Tricks (2006) und Zu viel Glück (2011). Kopf des Tages S. 40

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Foto: Reuters/Cassese Autorin Alice Munro entwarf am Küchentisc­h den Prototyp der modernen, welthaltig­en „short story“.

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