„Das Mittelmeer ist eine Hochsicherheitszone“
Das Mittelmeer werde schon jetzt präzise überwacht. Also könnte, wäre es erwünscht, jedes Migrantenboot gerettet werden, sagt Elias Bierdel von der Flüchtlings-NGO Borderline Europe zu Irene Brickner.
Standard: Der hunderter Flüchtlinge auf einem Schiff in Sichtweite des Hafens vor Lampedusa hat viele Menschen schockiert. Sehen Sie Chancen, dass jetzt Druck entsteht, um den Umgang mit Flüchtlingen an den EUGrenzen zu verbessern? Bierdel: Zwar waren die Reaktionen beim EU-Innenministertreffen in Luxemburg armselig und unzulänglich, aber in Italien wird jetzt ein anderer Ton angeschlagen. Es wird offen über die Lage an den EU-Außengrenzen gesprochen, während das bisher ja geleugnet und vertuscht wurde. Standard: Vertuscht? Was denn? Bierdel: Etwa, dass für die EU-Grenzschutzagentur Frontex zwar zehntausende Beamte tätig sind – aber dass sich kein einziger von ihnen mit den Opfern beschäftigt: Die Listen derer, die an den Grenzen sterben, werden allein von NGOs geführt. Standard: Warum das? Bierdel: Gibt es keine offiziellen Opferlisten, so gibt es auch keine offiziellen Opferzahlen. Sondern nur jene der NGOs, die in den vergangenen 15 Jahren 20.000 Tote dokumentiert haben: durch unterlassene Hilfeleistung wie jetzt vor Lampedusa, aber auch durch Abdrängen, Stoppen und zur Umkehr bewegen von Booten. Standard: Welche Regelungen und Gesetze sind dafür verantwortlich, dass Flüchtlingen in Todesgefahr nicht geholfen wird? Bierdel: Das ist ein ganzes Konglomerat: Völkerrecht, internationales Seerecht, nationale Bestimmungen, Strafrecht, Einwanderungsgesetze. Standard: Was zum Beispiel geschieht auf See? Bierdel: Dort wird Hilfeleistung erschwert: Zwar ist jeder Seemann angehalten, anderen Seeleuten in Not beizustehen – und will das auch. Aber heute sind Meldungen über sinkende Flüchtlingsboote nicht mit einem Auftrag zur Rettung verbunden, sondern mit einer präzisen Positionsangabe unter der Rubrik: ‚Vorsicht, Gefahr für die Schifffahrt‘. Da fahren viele nicht hin. Standard: Wer überwacht das Meer denn eigentlich so minutiös? Bierdel: Das Navteq-System, das von einem US-amerikanischen Geodatenanbieter betrieben wird – die Meldungen kommen dann von der Küstenwache. Die Schifffahrt ist für die Weltwirtschaft enorm wichtig, daher ist das Satellitenüberwachungssystem auf See inzwischen sehr detailliert. Standard: Wird so nicht auch jedes Flüchtlingsboot geortet? Bierdel: Sicher. Das Mittelmeer ist eine Hochsicherheitszone. Standard: Also wäre es technisch jederzeit möglich, Flüchtlingen in Seenot rechtzeitig zu helfen? Bierdel: Durchaus. Standard: Als Antwort auf den Flüchtlingsmassentod vor Lampedusa setzen Politiker auf noch schärfere Antischleppergesetze. Was halten Sie davon? Bierdel: Wenig, denn jeder, der sich mit dem Thema ernsthaft beschäftigt, weiß, dass die Schlepperkriminalität nicht die Ursache, sondern das Resultat des Flüchtlingssterbens ist. Weil es keine legalen Zugangswege gibt, müssen sich Flüchtlinge an Personen wenden, die man etwa an der Berliner Mauer Fluchthelfer nannte. Standard: Ist Fluchthilfe nicht etwas anderes als Schlepperei? Bierdel: Doch, und ich habe keine Sympathie für Menschen, die Geld mit der Not anderer machen. Aber viele, die in europäischen Gefängnissen wegen Schlepperei sitzen, waren nur Helfer. Standard: Im Europaparlament wurde nun Eurosur beschlossen. Wird dieses neue Kommunikationssystem zur Grenzüberwachung etwas verbessern? Bierdel: Da habe ich Zweifel, denn Lebensrettung steht hier nicht im Mittelpunkt. Eurosur ist ein technisches System – und ein Milliardengeschäft, unter anderem für Rüstungsfirmen. ELIAS BIERDEL (52), geboren in Berlin, war lange Journalist, bevor er sich in der Flüchtlingspolitik engagierte.