Meine Lieder, meine Träume, meine Tracht
Globales „Wohlfühlen“ist das Motiv einer Event- Kultur, die sich bei angeblich authentischer Volkskultur bedient. Überlegungen anlässlich des Oktoberfests und möglicher Neuorientierungen ethnografischer Museen – in Graz und anderswo.
Erst kürzlich reflektierte Alfons Kaiser auf der Titelseite der FAZ über den Abschluss des Münchner Oktoberfests sowie in diesem Zusammenhang darüber, was die Tracht heute zu bedeuten habe, und stellte fest:
„Dirndl und Lederhosen sind längst aus der Theresienwiese ausgebrochen und vermehren sich weltweit. Die unerschütterliche Lust an der Tracht ist Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Butzenscheiben noch den kalten Wind der Globalisierung abhielten. Die Fragen zu Dirndl und Lederhose gehen heute weit über München hinaus. (...) Das größte Volksfest der Welt ist nicht nur ein Exportfaktor ersten Ranges, das den Ruhm des deutschen Bieres in den letzten Winkel trägt. Es hat auch den unvergleichlichen Aufstieg eines Stils befördert, der noch vor einer Generation eher verachtet als belächelt wurde: Dirndl für Frauen und Lederhosen für Männer sind heute ein Großtrend.“
Als eine der möglichen Ursachen für diesen globalen Hang zur Tracht sieht Kaiser „auch das kindliche und mit zunehmendem Alter kindische Bedürfnis, in immer anderen Selbstentwürfen neue Rollen auszuprobieren“.
Eine solche Beobachtung in einem kosmopolitischen Leitmedium bundesdeutscher Hochkultur signalisiert mit einer wenig überraschenden Selbstverständ- lichkeit etwas durchaus Überraschendes. Schauen wir 100 Jahre zurück und reflektieren, was die Volkskunde in unserer Zeit bedeuten kann, dann ist hier eine Geschichte angerissen, die uns einen weiten Zeitbogen und die Drehung mancher Vorstellungen und Ideen aufzeigt.
Als Viktor Geramb in Graz sein Volkskundemuseum verwirklichte, in dem bestimmte Themenkreise aus der allgemeinen Kulturgeschichte herausgelöst und gesondert behandelt wurden, und als Geramb gemeinsam mit seinem Freund Konrad Mauthner ausgehend vom Phänomen ländlicher Kleidung zur Entwicklung des „Trachten“-Begriffes beitrug, war Globalisierung noch eher Kolonialisierung – und die Volkskunde als solche ein Versuch, der kolonialen Vermessung der Welt europäische Authentizität gegenüberzustellen. So manch ideologische Überhöhung raubte dem Unterfangen bald auch seine Unschuld – sofern da je eine war. Nun, 100 Jahre und zwei Weltkriege später, die Europas Position in der Welt neu verorteten, sehen wir das naturgemäß anders – der Kommentar aus Frankfurt ist nur die Feststellung eines profunden Bedeutungswechsels.
Begonnen hat das vielleicht mit Sound of Music (Meine Lieder, meine Träume), einem Film, der überall außerhalb Österreichs bekannter ist als hierzulande, vergleichbar auch mit dem „Mythos Heidi“ bei unseren Schweizer Nachbarn, dessen einschlägige Exegese in Kalifornien und Japan durchaus intensiver ist als am Ort des eigentlichen Geschehens. Was zeigt uns das?
Das ländliche Leben des traditionellen Europa und seine Belege – wenn sie je dem entsprochen haben, was wir im Museum als authentisch betrachten – sind längst globales Gemeingut geworden. Etwa als Münchner Oktoberfest, das – ähnlich wie Heidi und die Trapp-Familie – unserer Deutungshoheit entwunden ist und zu einem Versatzstück für diverse Events froher Erheiterung wurde. Es wurde zum Synonym für eine zeitgeistige, global gefühlte Sehnsucht nach einer nicht näher definierten Geborgenheit, ein Bedürf- nis, das zum Beispiel jährlich tausende chinesische Touristen nach Hallstatt schwemmt: ein permanenter „Wohlfühl-Event“für jene, die es sich leisten können, auf der Suche nach dem „AuthentischEuropäischen“um die halbe Welt zu fahren, während sie die Hallstatt-Kopie in ihrem eigenen Land, in Boluo in der Provinz Guangdong, links liegen lassen.
Lederhosen aus Indien
Welcher Schritt folgt als Nächster? Werden wir demnächst Dirndln und Dirndlstoffe chinesischer Provenienz begutachten und sammeln können? Die berühmten Wax-Prints, ein für die afrikanische Kultur sehr bedeutendes transkulturelles Textilphänomen, sind bereits um eine chinesische Spielart bereichert, wie wir aktuell in der Ausstellung von Romuald Hazoumè im Kunsthaus Graz sehen können – eine Ausstellung, die sich mit dem afrikanischen Alltag zu Zeiten der Globalisierung auseinandersetzt.
Und wenn wir von den verschlungenen Wegen transkultureller Produktion und dem globalen Produktionsprozess sprechen, können wir auch von Lederhosen berichten, die in Indien geschneidert und bestickt werden. Ganz abgesehen von der Vorarlberger Stickerei-Industrie, ohne die die Hochzeitspaare in Nigeria arm aussehen würden.
Was hat das alles in einer Stadt wie Graz zu bedeuten, deren Bevölkerung zu weit mehr als 20 Prozent nicht vor Ort geboren, aufgewachsen und sozialisiert ist, in einem Land, das bis vor 100 Jahren bewusst als Staatsideologie ein Vielsprachenmodell dem nationalen entgegengehalten hat und damals damit unterging? Können wir unsere Kultur noch so reflektieren, wie wir es vor 100 Jahren, selbst vor 20, vor zehn oder vor fünf Jahren getan haben? So wie unsere kulturellen Codes signifikant verändert um die Welt reisen, so bedienen auch wir uns seit Jahren aller möglichen „fremden“Codes in unterschiedlichstem Gewand. Was bedeutet der Siegeszug von Halloween, nicht nur bei uns, sondern auch in einem noch viel konsequenter auf kulturelle Identität bedachtem Land wie Frankreich? Ist das nicht ein Auftrag, ganz anders über kulturelle Transfers nachzudenken, darüber, was sie uns über unsere Geschichte und andere Geschichten sagen, wie sie große Politik abbilden und Teil einer Welt werden, in der kein Stein einer Identität mehr auf dem anderen bleibt, auch wenn uns die Produkte Landlust und Servus TV etwas anderes vorspiegeln wollen – wobei letzteres Medium nicht zufällig zum Konzern des austro-asiatischen Getränkeherstellers Red Bull gehört.
Manche werden nun aufschreien und fragen „Was hat das alles mit unserer Volkskunde zu tun?“, manche werden amüsiert lächeln und auf ganz andere Praktiken im Umgang mit Menschen mit dem vielfach zitierten Migrationshintergrund verweisen oder auch gelassen mit den sich verändernden Zeiten argumentieren. Es ist sicher hilfreich, bei lokaler Ethnografie die demografischen Wirklichkeiten konkreter abzubilden, doch greift das wahrscheinlich angesichts der kulturellen Umwälzungen, die wir erleben, viel zu kurz. Die Frage, die ich mir stelle, ist: Welche Fragen sind überhaupt die richtigen, und finden wir bei einer Kulturwissenschaft wie der Volkskunde darauf eine Antwort? PETER PAKESCH (58) ist Intendant des Universalmuseums Joanneum in Graz.