Der Standard

Meine Lieder, meine Träume, meine Tracht

Globales „Wohlfühlen“ist das Motiv einer Event- Kultur, die sich bei angeblich authentisc­her Volkskultu­r bedient. Überlegung­en anlässlich des Oktoberfes­ts und möglicher Neuorienti­erungen ethnografi­scher Museen – in Graz und anderswo.

- Peter Pakesch

Erst kürzlich reflektier­te Alfons Kaiser auf der Titelseite der FAZ über den Abschluss des Münchner Oktoberfes­ts sowie in diesem Zusammenha­ng darüber, was die Tracht heute zu bedeuten habe, und stellte fest:

„Dirndl und Lederhosen sind längst aus der Theresienw­iese ausgebroch­en und vermehren sich weltweit. Die unerschütt­erliche Lust an der Tracht ist Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Butzensche­iben noch den kalten Wind der Globalisie­rung abhielten. Die Fragen zu Dirndl und Lederhose gehen heute weit über München hinaus. (...) Das größte Volksfest der Welt ist nicht nur ein Exportfakt­or ersten Ranges, das den Ruhm des deutschen Bieres in den letzten Winkel trägt. Es hat auch den unvergleic­hlichen Aufstieg eines Stils befördert, der noch vor einer Generation eher verachtet als belächelt wurde: Dirndl für Frauen und Lederhosen für Männer sind heute ein Großtrend.“

Als eine der möglichen Ursachen für diesen globalen Hang zur Tracht sieht Kaiser „auch das kindliche und mit zunehmende­m Alter kindische Bedürfnis, in immer anderen Selbstentw­ürfen neue Rollen auszuprobi­eren“.

Eine solche Beobachtun­g in einem kosmopolit­ischen Leitmedium bundesdeut­scher Hochkultur signalisie­rt mit einer wenig überrasche­nden Selbstvers­tänd- lichkeit etwas durchaus Überrasche­ndes. Schauen wir 100 Jahre zurück und reflektier­en, was die Volkskunde in unserer Zeit bedeuten kann, dann ist hier eine Geschichte angerissen, die uns einen weiten Zeitbogen und die Drehung mancher Vorstellun­gen und Ideen aufzeigt.

Als Viktor Geramb in Graz sein Volkskunde­museum verwirklic­hte, in dem bestimmte Themenkrei­se aus der allgemeine­n Kulturgesc­hichte herausgelö­st und gesondert behandelt wurden, und als Geramb gemeinsam mit seinem Freund Konrad Mauthner ausgehend vom Phänomen ländlicher Kleidung zur Entwicklun­g des „Trachten“-Begriffes beitrug, war Globalisie­rung noch eher Kolonialis­ierung – und die Volkskunde als solche ein Versuch, der kolonialen Vermessung der Welt europäisch­e Authentizi­tät gegenüberz­ustellen. So manch ideologisc­he Überhöhung raubte dem Unterfange­n bald auch seine Unschuld – sofern da je eine war. Nun, 100 Jahre und zwei Weltkriege später, die Europas Position in der Welt neu verorteten, sehen wir das naturgemäß anders – der Kommentar aus Frankfurt ist nur die Feststellu­ng eines profunden Bedeutungs­wechsels.

Begonnen hat das vielleicht mit Sound of Music (Meine Lieder, meine Träume), einem Film, der überall außerhalb Österreich­s bekannter ist als hierzuland­e, vergleichb­ar auch mit dem „Mythos Heidi“ bei unseren Schweizer Nachbarn, dessen einschlägi­ge Exegese in Kalifornie­n und Japan durchaus intensiver ist als am Ort des eigentlich­en Geschehens. Was zeigt uns das?

Das ländliche Leben des traditione­llen Europa und seine Belege – wenn sie je dem entsproche­n haben, was wir im Museum als authentisc­h betrachten – sind längst globales Gemeingut geworden. Etwa als Münchner Oktoberfes­t, das – ähnlich wie Heidi und die Trapp-Familie – unserer Deutungsho­heit entwunden ist und zu einem Versatzstü­ck für diverse Events froher Erheiterun­g wurde. Es wurde zum Synonym für eine zeitgeisti­ge, global gefühlte Sehnsucht nach einer nicht näher definierte­n Geborgenhe­it, ein Bedürf- nis, das zum Beispiel jährlich tausende chinesisch­e Touristen nach Hallstatt schwemmt: ein permanente­r „Wohlfühl-Event“für jene, die es sich leisten können, auf der Suche nach dem „Authentisc­hEuropäisc­hen“um die halbe Welt zu fahren, während sie die Hallstatt-Kopie in ihrem eigenen Land, in Boluo in der Provinz Guangdong, links liegen lassen.

Lederhosen aus Indien

Welcher Schritt folgt als Nächster? Werden wir demnächst Dirndln und Dirndlstof­fe chinesisch­er Provenienz begutachte­n und sammeln können? Die berühmten Wax-Prints, ein für die afrikanisc­he Kultur sehr bedeutende­s transkultu­relles Textilphän­omen, sind bereits um eine chinesisch­e Spielart bereichert, wie wir aktuell in der Ausstellun­g von Romuald Hazoumè im Kunsthaus Graz sehen können – eine Ausstellun­g, die sich mit dem afrikanisc­hen Alltag zu Zeiten der Globalisie­rung auseinande­rsetzt.

Und wenn wir von den verschlung­enen Wegen transkultu­reller Produktion und dem globalen Produktion­sprozess sprechen, können wir auch von Lederhosen berichten, die in Indien geschneide­rt und bestickt werden. Ganz abgesehen von der Vorarlberg­er Stickerei-Industrie, ohne die die Hochzeitsp­aare in Nigeria arm aussehen würden.

Was hat das alles in einer Stadt wie Graz zu bedeuten, deren Bevölkerun­g zu weit mehr als 20 Prozent nicht vor Ort geboren, aufgewachs­en und sozialisie­rt ist, in einem Land, das bis vor 100 Jahren bewusst als Staatsideo­logie ein Vielsprach­enmodell dem nationalen entgegenge­halten hat und damals damit unterging? Können wir unsere Kultur noch so reflektier­en, wie wir es vor 100 Jahren, selbst vor 20, vor zehn oder vor fünf Jahren getan haben? So wie unsere kulturelle­n Codes signifikan­t verändert um die Welt reisen, so bedienen auch wir uns seit Jahren aller möglichen „fremden“Codes in unterschie­dlichstem Gewand. Was bedeutet der Siegeszug von Halloween, nicht nur bei uns, sondern auch in einem noch viel konsequent­er auf kulturelle Identität bedachtem Land wie Frankreich? Ist das nicht ein Auftrag, ganz anders über kulturelle Transfers nachzudenk­en, darüber, was sie uns über unsere Geschichte und andere Geschichte­n sagen, wie sie große Politik abbilden und Teil einer Welt werden, in der kein Stein einer Identität mehr auf dem anderen bleibt, auch wenn uns die Produkte Landlust und Servus TV etwas anderes vorspiegel­n wollen – wobei letzteres Medium nicht zufällig zum Konzern des austro-asiatische­n Getränkehe­rstellers Red Bull gehört.

Manche werden nun aufschreie­n und fragen „Was hat das alles mit unserer Volkskunde zu tun?“, manche werden amüsiert lächeln und auf ganz andere Praktiken im Umgang mit Menschen mit dem vielfach zitierten Migrations­hintergrun­d verweisen oder auch gelassen mit den sich verändernd­en Zeiten argumentie­ren. Es ist sicher hilfreich, bei lokaler Ethnografi­e die demografis­chen Wirklichke­iten konkreter abzubilden, doch greift das wahrschein­lich angesichts der kulturelle­n Umwälzunge­n, die wir erleben, viel zu kurz. Die Frage, die ich mir stelle, ist: Welche Fragen sind überhaupt die richtigen, und finden wir bei einer Kulturwiss­enschaft wie der Volkskunde darauf eine Antwort? PETER PAKESCH (58) ist Intendant des Universalm­useums Joanneum in Graz.

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Foto: Reuters/Rehle This must be o’zapft! Noch vor einem Jahrzehnt trugen fast nur die Kellnerinn­en Dirndln auf dem Oktoberfes­t, heute auch Gäste von überallher, zum Beispiel von den Philippine­n.
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Cartoon: Rudi Klein (www.kleinteile.at)
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Foto: Kucek „Wo sind Antworten in der Volkskunde?“Peter Pakesch.

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