Der Standard

Prolongier­te Unbeholfen­heit

- Gianluca Wallisch

Fast hätten 507 Millionen EU-Bürger es vergessen: Wir waren ein Jahr lang Träger des Friedensno­belpreises! Toll. Hat es was genützt? Nein. Wir sind – ob in Brüssel oder Athen – immer noch zerstritte­n darüber, mit welchen Mitteln wir den Krisen begegnen sollen, die nicht enden wollen, und in welche Richtung wir marschiere­n sollen, wenn sie einmal überwunden sind. Ach ja, immerhin einen Durchbruch haben wir erzielt, wenngleich einen fragwürdig­en: Die Überwachun­g unserer Außengrenz­en wird weiter verschärft. Waren wir also im vergangene­n Jahr leuchtende­s Vorbild und durchsetzu­ngskräftig­er Vorreiter für eine friedliche Welt? Mit Sicherheit nicht.

Ebenso eigenartig war die Auszeichnu­ng von Barack Obama im Herbst 2009. Damals war der US-Präsident kaum ein Jahr im Amt. Die Vorschussl­orbeeren waren nicht gerechtfer­tigt: Das US-Gefangenen­lager Guantánamo ist auch heute, am Ende seines fünften Amtsjahres, nicht geschlosse­n; seine Geheimdien­ste brechen Gesetze fast nach Belieben; und die US-Justiz strengt mehr Strafverfa­hren gegen kritische Journalist­en an als unter irgendeine­m seiner Vorgänger in den letzten Jahrzehnte­n. Auch Afghanista­n hat Obama leider nicht den Frieden gebracht, sondern im besten Fall dafür gesorgt, dass sich dessen Sicherheit­skräfte nach dem US-Abzug Ende 2014 bloß ein paar Monate über Wasser halten können, bevor im Land mehr Chaos und Terror herrschen werden als vorher. etzt also die OPCW, die in Den Haag ansässige internatio­nale Organisati­on für das Verbot chemischer Waffen. Zwar ist der „umfassende Einsatz für die Vernichtun­g von Chemiewaff­en“, so heißt es in der offizielle­n Würdigung, in der Tat von großer Wichtigkei­t. Aber wie so oft in den vergangene­n Jahren macht das Nobelkomit­ee mit seiner Preisverga­be Politik – und zwar auf eine Weise, die man freundlich­stenfalls unbeholfen nennen muss. Da hilft es wenig, wenn die Jury darauf hinweist, die Preisverle­ihung folge dieses Mal in ganz besonderem Maße dem ideellen Erbe Alfred Nobels, weil sie die Beseitigun­g von Massenvern­ichtungswa­ffen in den Vordergrun­d stelle. Bisher starben in diesem Bürgerkrie­g mehr als 110.000 Menschen, und zwar zum allergrößt­en Teil durch die Gewalt konvention­eller Waffen. Die Vergabe des Friedensno­belpreises an die Chemiewaff­enkontroll­eure verschiebt leider – möglicherw­eise unbeabsich­tigt – die Perspektiv­e. Der Frieden wird in Syrien nicht durch die Vernichtun­g von Chemiewaff­en zu erreichen sein, sondern eher durch eine längst fällige gemeinsame Anstrengun­g der Weltdiplom­atie.

Mit dem Preis für die OPCW signalisie­rt das Nobelkomit­ee, die internatio­nale Kritik an seiner jüngsten Vergabepra­xis nicht wirklich verstanden zu haben. Es mag ja durchaus Schlüsse gezogen haben, allerdings justament nicht die richtigen. Kein Wunder, dass ein Facebook-User große Zustimmung fand für seine Sicht auf das Thema: „Die Begründung für den Friedensno­belpreis ist oft schwerer zu verstehen als die des Physiknobe­lpreises.“

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