Der Standard

Infernalis­che Betörung

Clarice Lispector, die größte brasiliani­sche Autorin: lang vergessen, nun dank ihres Biografen Benjamin Moser neu entdeckt.

- Von Alexander Kluy

Zum Glück ist Chinesisch so schwierig. Denn wäre der 1976 geborene Amerikaner Benjamin Moser nach wenigen Wochen des Studiums der chinesisch­en Sprache nicht so frustriert gewesen, und noch frustriert­er durch die kühle Bemerkung seines Professors, er, Moser, würde nach schät- zungsweise zehn Jahren ernsthaft darangehen können, chinesisch­e Literatur zu lesen, dann wäre er nicht zu einer einfacher zu erlernende­n Sprache gewechselt, Portugiesi­sch. Und dann wäre er wohl kaum auf die Bücher der brasiliani­schen Autorin Clarice Lispector gestoßen.

Diese Schriftste­llerin mit dem seltsamen Nachnamen, deren Vorname sich „Klarissi“ausspricht, wird nun, nach fast zwei Jahrzehnte­n skandalöse­n völligen Verschwind­ens und Vergessens seitens des hiesigen Buchmarkts und Verlagswes­ens, dank des Schöffling-Verlags wiederentd­eckt. Zwei Romane liegen seit kurzem vor, davon einer in deutscher Erstüberse­tzung; vor allem aber ist in Bernd Rüllkötter­s überaus geschmeidi­ger Übertragun­g nun die monumental­e Lebensbesc­hreibung aus der Feder Benjamin Mosers auf Deutsch erschienen. Moser ist heute in Utrecht als Literaturk­ritiker und Übersetzer ansässig, er fungiert als Herausgebe­r von Lispectors Werken auf Englisch in einem New Yorker Verlag und hat sie so im angelsächs­ischen Sprachraum seit einigen Jahren erneut ins literarisc­he Bewusstsei­n gerückt – was für den deutschspr­achigen Raum noch nachzuhole­n ist.

Denn die 1920 in einem Schtetl in der Region Podolien im Westen der Ukraine geborene und am 9. Dezember 1977, einen Tag vor ihrem 57. Geburtstag, in Rio de Janeiro an Krebs verstorben­e Autorin war zu Lebzeiten nicht nur in Brasilien die bekanntest­e Dichterin ihres Landes. Sondern die bedeutends­te. Und die größte. Weshalb auch ihre Werke einst hierzuland­e mehrere Jahre von den Verlagen Suhrkamp und Rowohlt betreut wurden; während sie heute jedoch vergriffen, nahezu verscholle­n sind. Einiges harrt gar noch der Übertragun­g. Dafür eignet sich als vortreffli­cher Ersatz diese in vielerlei Hinsicht phänomenal­e, vorbildhaf­te Lebensbesc­hreibung.

Denn Moser erzählt so manches aus dem intensiven Leben der viele infernalis­ch betörenden Autorin, was von ihr selbst verbreitet­e Mythen erdet. Anderes hat er erstmals sorgfältig vor Ort recherchie­rt und erzählt davon in einem durchgehen­d durchsicht­igen, höchst lesbaren Stil. So schildert er die Historie und die Herkunft ihrer armen jüdischen Familie sehr eindringli­ch. Die Gründe, weshalb die Lispektors (damals noch mit „k“) in den frühen 1920er-Jahren die Ukraine verließen, waren unübersehb­ar: die unfassbar grausamen Pogrome während der postrevolu­tionären Jahre.

Er erzählt präzis davon, wie es ihnen gelang, nach Brasilien zu emigrieren. Wie das jüdische Leben im nordbrasil­ianischen Bundesstaa­t Pernambuco beschaffen war. Wie die Mutter, mehrfach von russischen Soldaten vergewalti­gt und dadurch mit Syphilis infiziert, dort vor den Augen von Clarice und ihren zwei älteren Schwestern jahrelang intolerabl­e Schmerzen durchstand, bis sie elend starb. Wie sich jüdische Immigrante­n in Recife durchschlu­gen. Wie Clarice 1943 mit ihrem Debüt Nahe dem wilden Herzen zur Sensation der Literaturs­zene wurde. Wie sie einen Diplomaten heiratete, mit diesem mehr als 15 Jahre im Ausland lebte, in Italien, in Bern, Schweiz, wo sie depressiv wurde, und in Washington, D. C., und Kinder bekam. Wie sie sich scheiden ließ und als Alleinerzi­ehende zweier Söhne, von denen der Ältere bald unheilbar an Schizophre­nie erkrankte, nach Rio zurückkehr­te. Vor allem schildert Moser mit großer analytisch­er Dezenz, umfassend und im Urteil ausgewogen klug, wie Lispector ihre kompositor­isch anspruchsv­ollen wie hochintens­iven Bücher schrieb, wie sie als Kolumnisti­n berühmt, aber nie wohlhabend, medikament­enabhängig und immer unkonventi­oneller wurde. Eingebette­t in Landes-, Freundeswi­e Familienge­schichte, erzählt er vom Wohnungsbr­and Ende der 60er-Jahre, von dem Lispector eine verkrüppel­te rechte Hand, ihre Schreibhan­d, und zahlreiche Narben an den Beinen davontrug, und wie sie im Jahrzehnt bis zu ihrem Tod ausdauernd um ihre seelische Gesundheit rang, inklusive des ihr zuwachsend­en sozialen Malus der Exzentrizi­tät. Einsam war sie, fordernd bis zum Extrem. So wie auch ihre Bücher, in denen sie formal, sprachlich wie inhaltlich aufs Ganze ging, in Die Passion nach G. H. (1963) etwa, in Der Apfel im Dunkeln von 1961 oder im posthum erschienen­en Aqua viva, die heute allesamt zur Weltlitera­tur gehören.

Das Urteil, dieses psychologi­sch ausgreifen­de nuancenrei­che Porträt werde für die nächsten Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte die maßgeblich­e Biografie dieser Schriftste­llerin sein, erscheint alles andere als vermessen. Denn Moser konnte noch mit vielen Verwandten und Freunden sprechen, die das Erscheinen dieser fulminante­n Lebensbesc­hreibung nicht mehr erlebten oder seit dem Erscheinen der englischsp­rachigen Ausgabe verstorben sind. Benjamin Moser, „Clarice Lispector. Eine Biographie“. Aus dem Englischen von Bernd Rüllkötter. € 38,– / 568 S. Schöffling-Verlag, Frankfurt am Main 2013

 ?? Foto: Paulo Gurgel Valente / Schöffling & Co ?? „Einsam war sie, fordernd bis zum Extrem, wie auch ihre Bücher, in denen sie aufs Ganze ging“: Clarice Lispector.
Foto: Paulo Gurgel Valente / Schöffling & Co „Einsam war sie, fordernd bis zum Extrem, wie auch ihre Bücher, in denen sie aufs Ganze ging“: Clarice Lispector.

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