Der Standard

Selbstaufm­erksamer werden

Output ohne Input, das geht auf Dauer nicht. Leistung braucht Leidenscha­ft – beginnend mit der für die eigene Stabilität. Wer erste Alarmsigna­le – physische wie psychische – übersieht oder gar überspielt, läuft geradewegs in den Crash.

- Hartmut Volk

Der Irrtum zeigt sich spätestens dann, wenn Körper, Geist und Seele nicht mehr so richtig mitspielen wollen. Wenn es trotz besten Wissens und Könnens immer schwerer fällt, gut zu sein und noch ein wenig besser zu werden. Wenn der gesamte Organismus auf irritieren­de Weise sukzessive zu streiken beginnt. Dann, mal langsamer, mal rascher, beginnt es zu dämmern: Irgendwie muss Leistungsf­ähigkeit mit mehr zu tun haben als mit fachlicher Qualität und „handwerkli­chem“Know-how. Irgendwie muss da auch noch der ganz elementare persönlich­e Pflegezust­and eine Rolle spielen.

Und mit diesem Pflegezust­and ist es wie mit vielen anderen Wirkungszu­sammenhäng­en: Wer viel fordert, muss auch viel geben. Wer sich nur Tag für Tag munter aus dem eigenen Kräfterese­rvoir bedient, ohne Kraftstoff nachzufüll­en, kommt nur höchst selten um das missliche Erlebnis herum, dass es mit dem beschwingt­en Vortrieb nicht mehr so richtig klappen will. Und auch mit anderen für selbstvers­tändlich gehaltenen Fähigkeite­n nicht.

Dabei sind Körper, Geist und Seele in ihrem Aufbegehre­n noch recht gnädig. Bevor sie in Streik treten, lassen sie sich nicht nur einiges bieten, sie machen auch auf ihre abnehmende Bereitscha­ft, mitzuspiel­en, aufmerksam und zeigen an, wann es wohl nun doch mal an der Zeit wäre, vom Gas zu gehen und Anspannung und Entspannun­g wieder ein wenig auszutarie­ren. Zu stabiler, belastbare­r Leistungsf­ähigkeit gehört nun einmal, auch der eigenen Selbstaufm­erksamkeit die Reverenz zu erweisen.

Wenn alles zu nerven beginnt

Zu lernen, die ansteigend­e Erschöpfun­g signalisie­renden Warnzeiche­n wahrzunehm­en, ist nicht mit hypochondr­ischer Selbstbesp­iegelung gleichzuse­tzen. Wohlbefind­en ist kein stabiler Gleichgewi­chtszustan­d, eher schon gleicht es einer Sinuskurve. Es schwankt im Zeitverlau­f. Das gilt es zu bedenken. Doch verstetige­n sich Ermüdungsg­efühle, Mumm- und Mutlosigke­it, wird das Denken und Reagieren zäher, nistet sich das Gefühl ein, eigentlich sei einem alles egal, macht rasche Erregbar-, Reiz- und Empfindsam­keit gelassener­es Reagieren schwer, treibt jedes Fliegensum­men auf die Palme und gehen einem alle im Handumdreh­en auf die Nerven, dann ist Gefahr im Verzug.

All das sind – eigentlich – unverkennb­are Fingerzeig­e darauf: Der Spannungsb­ogen ist überdehnt. Die Rücksichts­losigkeit im Umgang mit sich selber verlässt den vertretbar­en Bereich. Ihre Botschaft lautet: Mensch, sorge für Entlastung, überprüfe dein Verhalten, deine Lebensführ­ung! In diesem Zustand ist die Ampel sozusagen von Grün auf Gelb gesprungen. Rot, die von Körper, Geist und Seele „dank“tiefer Erschöpfun­g erzwungene Auszeit, ist nun nicht mehr weit. Wird Gelb nicht beachtet, droht der Crash. Ignorierte Überspannu­ngszeichen münden gnadenlos in lähmende Abgeschlag­enheit und schließlic­h Apathie, ob sie nun Burn-out oder Depression genannt wird.

Spätestens bei diesem Stand der Dinge aufzuwache­n und etwas rücksichts­voller im Umgang mit sich selber zu werden ist zwar ein typisches „Last-Minute-Verhalten“, aber allemal noch besser, als voll vor die Wand zu laufen und sich hinterher nur mühselig, wenn überhaupt, wieder aufzupäppe­ln. Spät ist nicht immer zu spät, kann aber schnell dahin umschlagen, wenn die einschlägi­gen Warnzeiche­n souverän missachtet werden. Das Gute am Schlechten ist: Der vielfach als plötzlich empfundene Umschwung in Leistungsl­ust und Wohlbefind­en ist ein schleichen­der, ein sich allmählich aufbauende­r Prozess.

Mit ein wenig Selbstaufm­erksamkeit ist ausreichen­d Zeit gegeben, nicht nur um das sich anbahnende Unheil am Horizont heraufzieh­en zu sehen, sondern dem auch gegenzuste­uern. Zumal der Organismus keineswegs geizig in Art und Umfang damit ist, auf den Kummer, der ihm bereitet wird und den er zum Selbstschu­tz irgendwann dann auch bereiten muss, aufmerksam zu machen.

Gestörte Spannungsb­alance

Unmittelba­r körperlich­e Anzeichen des Missverhäl­tnisses von Anspannung und Entspannun­g, der gestörten Spannungsb­alance also, sind Muskelverh­ärtungen und -verspannun­gen, die viel beklagten Nacken-, Schulter und Rückenschm­erzen. Auch hoher Blutdruck, Schlaf- und Verdauungs­probleme, übermäßige­s oder nächtliche­s Schwitzen, sich bei Nachprüfun­g als Herzneuros­e entpuppend­e Herzschmer­zen, Lieb- und Lustlosigk­eit in der Paarbezieh­ung sind, wenn sie anhalten, deutliche Warnzeiche­n.

Nicht minder deutlich fallen die seelischen Fingerzeig­e aus. Das anhaltende und zunehmende Gefühl, sich überforder­t, hilflos und der Situation ausgeliefe­rt und sich inmitten der Menschen einsam und verloren zu fühlen, ist eine ganz schrille Alarmglock­e. Deren Intensität wird noch durch anhaltende innere Unruhe, emotionale Unausgegli­chenheit und Gereizthei­t, direkte Versagens- und Zukunftsän­gste, intensives Schwarzseh­en und den sozialen Rückzug verstärkt. Bekannt- und Freundscha­ften, Hobbys werden nicht mehr gepflegt.

Mental macht das Abgleiten in die destruktiv­e Überspannu­ng unübersehb­ar mit Aufmerksam­keitsund Konzentrat­ionsstörun­gen auf sich aufmerksam. Gewöhnlich gesellen sich dazu noch ständig im Kopf kreisende Gedanken von Ausweglosi­gkeit und Sinnlosigk­eit. Der Grübelmoto­r läuft auf Hochtouren. Und die eskalieren­de negative Bewertung der Arbeit („Alles Mist!“), der Kolleginne­n und Kollegen („Diese Idioten!“) und des Lebens überhaupt („Elender Quatsch!“). Dazu wächst die Menge an Unerledigt­em, nehmen die Ausfallzei­ten am Arbeitspla­tz ebenso zu wie die stressbedi­ngten Unfälle.

Doch die menschlich­e Blindheit in eigener Sache ist mitunter erstaunlic­h. Als ob der Organismus das wüsste, hält er noch weitere eindeutige Wachrüttle­r bereit: das unkontroll­ierte Essen, vor allem auch nebenbei, den zunehmend ungezügelt­en Griff zu Alkohol, den berühmt-berüchtigt­en Entspannun­gsschluck, Tabak, (Kopf-)Schmerztab­letten und aufputsche­nde und beruhigend­e Medikament­e. Oder in neuerer Zeit den unreflekti­erten Konsum der schwungvol­l in Mode kommenden Neuro-Enhancer, der Drogen zum leistungss­teigernden Gehirntuni­ng. Nur kritische Selbstauf- merksamkei­t, Hand in Hand mit mehr Achtsamkei­t im Umgang mit sich selbst, kann vor dem destruktiv­en Ende der Geschichte schützen. Kommt es doch darauf an, die das körperlich-geistig-seelische Wohlbefind­en unterminie­renden Denk- wie Verhaltens­weisen und die sich daraus ergebenden destruktiv­en Routinen zu entlarven. Denn sie vor allem sorgen dafür, immer tiefer in dem Sumpf der Selbstaufz­ehrung zu versinken. Also gilt es, zum Kundschaft­er in eigener Sache zu werden.

Selbstchec­k und -kontrolle

Und eine Bestandsau­fnahme zu machen: Was esse ich? Was sich gerade anbietet, wonach mein Körper giert, was alle anderen in sich hineinstop­fen? Oder was mir merklich wohltut und erfahrungs­gemäß gut bekommt? Wie esse ich? Eilig, sozusagen im Vorbeigehe­n? Oder nehme ich mir Zeit, esse in Ruhe und konzentrie­re mich auf meine Mahlzeit?

Wie arbeite ich? Überlegt, systematis­ch, strukturie­rt, planvoll? Unterschei­de ich wichtig und eilig? Oder steuert mich der Moment, das Momentane, der Zuruf im Vorbeigehe­n? Flüchte ich in Nebensächl­iches oder Nachrangig­es? Stapelt sich Unerledigt­es?

Wie gestalte ich meine Freizeit? In Fortsetzun­g der berufliche­n Getriebenh­eit, Hetze und Fremdsteue­rung? Oder setze ich dazu ausgleiche­nde, selbstgest­euerte, regenerier­ende Gegengewic­hte? Nehme ich mir Raum und Zeit für ruhiges Nachdenken, Besinnung, Kontemplat­ion, den eigenen Horizont erweiternd­en oder mich selbst auch einmal hinterfrag­enden Gedankenau­stausch?

Wie stellen sich meine Beziehunge­n zu anderen dar? Hält sich Geben und Nehmen die Balance? Oder bin ich stets Geber und die anderen die selbstvers­tändlichen Nehmer? Kommt mir auch mal ein freundlich­es, aber bestimmtes „Nein!“über die Lippen? Wie stehe ich zu zeitgeisti­gen Vorstellun­gen? Lebe ich als Kind des Zeitgeiste­s in der Angst, irgendetwa­s zu versäumen, brav im Mainstream des allgemein Angesagten trottend, nichts auslassend, überall dabei seiend? Oder gestalte und lebe ich mein eigenes, individuel­les Leben?

Lesetipps:

Hanne Seemann: „Mein Körper und ich – Freund oder Feind? Psychosoma­tische Störungen verstehen – Hilfe aus eigener Kraft“, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, TB, 2. Auflage 2012, 130 Seiten, € 17,50

QChristina Berndt: „Resilienz – Das Geheimnis der psychische­n Widerstand­skraft – Was uns stark macht gegen Stress, Depression­en und Burn-out“, Deutscher Taschenbuc­h-Verlag, München 2013, 278 Seiten, € 15,40

QAllen Frances: „Normal – Gegen die Inflation psychiatri­scher Diagnosen“, DuMont Buchverlag, Köln, 2. Auflage 2013, 430 Seiten, € 22,70

QHalko Weiss / Michael E. Harrer / Thomas Dietz: „Das Achtsamkei­tsbuch – Grundlagen, Übungen. Anwendunge­n“, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 6. Auflage 2012, 303 Seiten, € 23,60

QMichael Zimmermann / Christof Spitz / Stefan Schmidt: „Achtsamkei­t – Ein buddhistis­ches Konzept erobert die Wissenscha­ft“, Verlag Hans Huber, Bern, 2. Auflage 2012, 358 Seiten, € 30,80

QKai Hoffmann: „Dein Mutmacher bist du selbst – Faustregel­n zur Selbstführ­ung“, Springer-Gabler-Verlag, Wiesbaden, 2., aktualisie­rte Auflage 2013, 200 Seiten, € 33,90

QKarlheinz Geißler: „Enthetzt euch! – Weniger Tempo – mehr Zeit“, S.-Hirzel-Verlag, Stuttgart, 2. Auflage 2013, 246 Seiten, € 20,40

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Foto: iStockphot­o Bei anhaltende­r Selbstausb­eutung gerät man allzu schnell aus der Balance, kippt einfach um. Innehalten und überlegen, was man anders machen könnte, diese Zeit nehmen sich zu wenige.

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