Der Standard

Freiheitsb­eschränkun­g mit Tabletten

Österreich­ische Heimbewohn­ervertretu­ng fordert bessere Kontrolle der Medikation

- Thomas Neuhold

Wels – Bauchgurte gehörten der Vergangenh­eit an, die Bettgitter seien weitgehend verschwund­en, Käfigbette­n verboten; Rosalinde Pimon von der Bewohnerve­rtretung in Oberösterr­eich zieht eine positive Bilanz: In den knapp zehn Jahren, seit das Heimaufent­haltsgeset­z in Österreich in Kraft ist, habe sich für die Bewohner der mehr als zweitausen­d Einrichtun­gen viel zum Positiven verändert.

Das seit Juli 2005 geltende Gesetz regelt unter anderem, unter welchen Voraussetz­ungen Menschen in Seniorenhe­imen oder in Einrichtun­gen für Behinderte in ihrer individuel­len Bewegungsf­reiheit eingeschrä­nkt werden dürfen. Solche Maßnahmen sind meldepflic­htig. Für die Überprüfun­g sind profession­elle Bewohnerve­rtreter zuständig. Diese wiederum rufen in strittigen Fällen die Gerichte an.

So positiv die Bilanz bei einer Fachtagung in Wels am Freitag hinsichtli­ch der Reduktion mechanisch­er Freiheitsb­eschränkun­gen bei möglicher Eigen- oder Fremdgefäh­rdung auch war, in einem wichtigen Bereich orten die Bewohnerve­rtreter gewaltige Defizite: Zu häufig würden Tabletten gegen Traurigkei­t, Unruhe, gegen das Nicht-im-Heim-bleiben-Wollen eingesetzt. Und nur selten würde eine solche Medikation als Freiheitsb­eschränkun­g gemeldet, obwohl sie eine darstelle. Hier sei mehr Kontrolle notwendig.

Sozialphar­maka

Es handle sich in einigen Fällen um eine „Bedarfsmed­ikation“, beschreibt Christian Grill, Sachverstä­ndiger für Heilpädago­gik, die mancherort­s vorhandene Praxis Heimbewohn­er vorsorglic­h zu sedieren. Etwa wenn ein Pfleger oder eine Pflegerin allein Nachtdiens­t habe und nur so der geregelte Ablauf einer Nacht gewährleis­tet werden könne.

Für die Bewohnerve­rtreter handelt es sich um ein schwierige­s Terrain. Dass die Verabreich­ung von Psychpharm­aka oft nicht von den Heimen als Freiheitsb­eschränkun­g gemeldet werde, liege daran, dass die Medikament­e sowohl von Ärzten als auch vom Pflegepers­onal als Therapie einer psychische­n Erkrankung klassifizi­ert würden.

Die Gesetzesla­ge sei aber eindeutig, hielt Manfred Lengauer, Richter im Rechtsmitt­elsenat des Landesgeri­chtes Wels, fest: Auch wenn es beispielsw­eise „nur“zu einer Dämpfung des Bewegungsd­rangs auf das Normalmaß mittels Medikament­en komme, sei das eine Freiheitsb­eschränkun­g. Ähnliches gelte auch, wenn die Medikament­e gegen Symptome wie Aggressivi­tät, Rastlosigk­eit, nächtliche Unruhe und Weglauften­denzen älterer Menschen verabreich­t würden.

Susanne Jaquemar, Österreich­Chefin der Bewohnerve­rtretung, fordert freilich nicht nur eine Überprüfun­g der medikament­ösen Freiheitsb­eschränkun­gen. In vielen Fällen wären diese einfach nicht notwendig, sagt Jaquemar im

Gespräch. Oft müsse man sich nur vor dem Einsatz von Psychophar­maka fragen, welche Maßnahmen man bei einem „herausford­ernden Verhalten“eines Heimbewohn­ers ergreifen könne. Vielfach gehe es ja ohne Tabletten.

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