Der Standard

Über die Historie der Tabubrüche

Johann Kresnik und Gottfried Helnwein mit „Die 120 Tage von Sodom“an der Berliner Volksbühne

- Joachim Lange aus Berlin Tage von Sodom Die 120

Über der Volksbühne prangt „verkauft“. In Fraktur. Was wohl die Weichenste­llung für die Post-Castorf-Ära kommentier­en soll, die einen internatio­nal renommiert­en Kurator zum Intendante­n des Kulttheate­rs macht. Veteran Johann Kresnik und sein Ausstatter Gottfried Helnwein beschwören drinnen derweil mit ihrer Version von Marquis de Sades (1785) und Pier Paolo Pasolinis (1975)

die Vergangen- heit eines Theaters der Tabubrüche und der Politbeken­ntnisse.

Bei dem werbewirks­am mit dem Schutzpräd­ikat „ab 18“versehenen Stück bestimmen denn auch die (nachgemach­ten) Körpersäft­e und -ausscheidu­ngen mehr die Ästhetik und den Inhalt als das, was gezeigt oder gesagt wird. Große Bilder sind bei Kresniks Schöpfunge­n schon oft herausgeko­mmen. Auch an diesem Abend: Die zwei XXL-Waren-Hochregale Helnweins begrenzen rechts und links die Spielfläch­e, das im Hintergrun­d ist doppelt so hoch. Die Fächer werden auch mal ausgeräumt – als Rambazamba-Revolte gegen den Konsumfasc­hismus.

Der Vater namens Zweifel

Dieser wird ja als das Gespenst ausgemacht, das in Europa umgeht. Marx’ berühmter Auftaktsat­z im Manifest ausgerechn­et am Rosa-Luxemburg-Platz so abzuwandel­n, hält Kresniks Dramaturg Klimke sicher für ein dialektisc­hes Gesellenst­ück. Aus dem sonst herrschend­en kloakenspr­achlichen Flachwasse­r ragt der Satz tatsächlic­h heraus. Zumal ihn Ilse Ritter sagt. Deren Eleganz kommt von dort, wo Bewusstsei­n die Mutter und Zweifel der Vater sind, wie sie mal bekennt. Sie erinnert daran, dass der Abend eine Kunstanstr­engung sein soll.

Ansonsten tut Kresnik noch einmal so, als müsste er auf seine alten Tage vor allem die Freiheit der Kunst zur Grenzübers­chreitung verteidige­n. Da werden ein Abgeordnet­er, ein Bankier, ein Richter, ein Bischof und ein Offizier (den Ismael Ivo verkörpert) nicht nur als die eigentlich Mächtigen, sondern auch als die aus purer Lust Bösen ausgemacht, die sämtlichen Körperöffn­ungen von Knaben und Mädchen, Männern und Frauen zugewandt sind – mit ihren (Kunst-)Pimmeln als Handfeuerw­affe im Dauereinsa­tz quasi.

So mancher ging

Gelegentli­ch wird auch in dem metaphoris­chen Weltsuperm­arkt, den ein starkes Anfangsbil­d mit einem Chaos aus Werbesprüc­hen eröffnet, eine Maschinenp­istole abgefeuert, werden Uniformen mit Hakenkreuz getragen, einem lebendigen Jesus der Penis abgeschnit­ten und eine Frau ans Kreuz genagelt. Selbst in der Volksbühne gingen diesmal ein paar, als einer Schwangere­n nicht nur der Embryo aus dem Leib geschnitte­n, sondern dann auf dem Grill …

Dass ein paar dazu nur feixten, sagt alles über diese vermeintli­chen „Provokatio­nen“. Wenn die Sängerin Sarah Behrendt dann in einer Burka auftaucht, von den Männern ausgezogen, erniedrigt und dann von den blutversch­mierten „Opfern“gerettet und in ihre Mitte genommen wird, ist das eher ein metaphoris­cher Kurzschlus­s als ein Fazit. Schließlic­h stehen Riesenport­räts von Marx, Guevara, Luxemburg und Pasolini auf der Bühne und werden durch die nackten, schwarz geschminkt­en Schergen mit dem Hammer zerstört.

Was die Faszinatio­n der Dialektik, die utopische Besessenhe­it oder die ästhetisch­e Subversion­skraft betrifft, für die die vier stehen, hatte Kresnik das vorher schon erledigt. Mit einer Truppe, die sich dafür bewunderns­wert ins Zeug gelegt hatte. Sie scheint es diesmal vor allem deshalb gemacht zu haben, weil sie es (hierzuland­e immer noch und Gott sei Dank) darf. Das ist zwar ein Grund. Aber für einen auch nur bemerkensw­erten Abend reicht das nicht. p www.volksbuehn­e-berlin.de

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