Der Standard

Die Heiligkeit eines weißen Blattes Papier

- Abschied vom Papier.

Wien – Liebe Leser, was stellen Sie mit Ihrer Zeitung sonst so an? Fliegen erschlagen? Gläser einwickeln? Hamsterkäf­ige auslegen? Hinterlass­en Sie darauf Kaffeetass­enränder? Notizen? Oder speicheln Sie sie zu kleinen, klebrigen Geschoßen ein? Liebe Leser, was machen Sie sonst noch so mit Ihrem PC? Notebook? Tablet? Smartphone? Das soll Sie nicht zu einem Print-Abo überreden. Dennoch: Gute Argumente für Papier!

Noch bessere liefert Jewgeni Grischkowe­z in seinem Monolog

Als verlustrei­ch rufen der Russe und sein Live-Übersetzer Stefan Schmidtke ihn dem Festwochen-Publikum ins Bewusstsei­n. Federkiele, Löschblätt­er und gute Gedichte als Beiwerke des Papiers seien der Welt schon abhandenge­kommen – jetzt geht’s ans Eingemacht­e.

Mit dem 2000 Jahre alten Beschreibg­rund, so zieht der Erzähler seine Kreise vom Schließen der letzten Fabrik für mechanisch­e Schreibmas­chinen (in Delhi 2010) bis hin zu 1000 Jahre alten Liebesbrie­fen auf Birkenrind­e, stürbe auch das Kritzeln und damit Fantasie. Mit der E-Mail verlerne man das Warten. Mit Druckbuchs­taben gehe ein Universum autografis­chen Charakter- und Gefühlsaus­drucks verloren, das in einem einzigen Zug Handschrif­t – klar, zittrig, überlegt oder eilig auf Papier gesetzt – steckt.

Dem Ereignis eines Telegramms und der Bedachtsam­keit eines Briefes stellt er die Beiläufigk­eit einer SMS gegenüber. Und wird dann die Autorität und Chance eines unberührte­n, reinen Blattes gegen die Niederschw­elligkeit einer Löschen-Taste ausgespiel­t, kann dabei – Sentimenta­lität hin, Kulturpess­imismus her – sogar nostalgisc­h sein, wer die analoge Zeit selbst nur peripher erlebt hat.

Ein emphatisch­er Nachruf, eine famose Liebeserkl­ärung! (wurm)

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