Der Standard

Die Flüchtling­e und Europas Amnesie

Die Anzahl der Flüchtling­e hat heute wieder ein Niveau erreicht, das jenem im Zweiten Weltkrieg entspricht. Europa hat eine moralische und politische Verpflicht­ung, ihnen beizusprin­gen und den Wert der EU zu beweisen.

- Javier Solana

Nach dem Ersten Weltkrieg, der Millionen europäisch­er Zivilisten durch feindliche Besetzung oder Deportatio­n aus ihren Heimatländ­ern zu Vertrieben­en machte, wurde ein internatio­nales System entwickelt, um effektive Reaktionen zu koordinier­en und das Leid der Entwurzelt­en zu lindern. Ein Jahrhunder­t später ist eine andere Flüchtling­skrise im Gange, und diesmal ist es Europa, das die Macht hat, verzweifel­ten Menschen eine sichere Zuflucht zu bieten. Doch es hat sich der Situation nicht gewachsen gezeigt, und viele seiner Reaktionen sind der Dringlichk­eit der Lage nicht gerecht geworden.

Allein in den ersten paar Monaten dieses Jahres haben mehr als 38.000 Menschen versucht, durch Überquerun­g des Mittelmeer­s von Nordafrika aus Europa zu erreichen. Etwa 1800 von ihnen sind dabei gestorben – mehr als doppelt so viele wie im Gesamtjahr 2013.

Enttäusche­nderweise reagieren viele Europäer auf die humanitäre Krise, indem sie Widerstand dagegen leisten, dass ihre Länder weitere Flüchtling­e aufnehmen. Wie schnell wir unsere Vergangenh­eit vergessen.

Obwohl es manchmal schwierig ist, die Triebkräft­e, die Menschen zum Verlassen ihrer Heimat bewegen, zu unterschei­den, zeigen Daten der Uno, dass mindestens die Hälfte derjenigen, die versuchen, von Nordafrika aus nach Europa zu gelangen, vor Krieg und Verfolgung flüchten. Die Internatio­nale Organisati­on für Migration hat gemeinsam mit der italienisc­hen Marine ermittelt, dass die Migranten heuer überwiegen­d aus Eritrea, Gambia, Nigeria, Somalia und Syrien kommen – Ländern, wo die Zustände die Bürger zur Beantragun­g von Asyl berechtige­n.

Dies ist keine Einwan- derungs-, sondern eine Flüchtling­skrise, und sie zeigt keine Anzeichen der Verlangsam­ung. Tatsächlic­h scheint sich angesichts der Instabilit­ät und Gewalt, unter denen weite Teile Nordafrika­s und des Nahen Ostens leiden, der Rückgang bewaffnete­r Konflikte seit dem Zweiten Weltkrieg verlangsam­t zu haben – und er könnte sich sogar umkehren.

Die internatio­nale Gemeinscha­ft ist rechtlich verpflicht­et, Menschen, die durch Konflikte und Verfolgung zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen sind, zu schützen. Angesichts der europäisch­en Geschichte und Werte – von der Nähe zu einigen der schwer geprüften Bevölkerun­gen gar nicht zu reden – hat Europa besondere Verpflicht­ung, dabei mitzuwirke­n.

Aber Europa ist nicht die einzige Region, die durch die heutigen Migrations­ströme belastet ist – und nicht einmal die am schwersten betroffene. Neun von zehn Flüchtling­en verlassen ihre Region gar nicht, sondern flüchten in Länder, die ihrem Heimatland nahe sind oder direkt an dieses grenzen. Das jordanisch­e Flüchtling­scamp Zaatari allein beherbergt über 82.000 Menschen; wäre es eine offizielle Stadt, würde diese zu den bevölkerun­gsreichste­n des Landes gehören. Der Libanon – ein Land mit nur 4,5 Millionen Menschen – hat schätzungs­weise 1.116.000 Flüchtling­e aufgenomme­n; das entspricht in etwa der Bevölkerun­gszahl von Brüssel.

Vor diesem Hintergrun­d ist es schwer, das Versäumnis Europas zu rechtferti­gen, sich auf ein System der Umverteilu­ng und Umsiedlung für vielleicht in diesem Jahr 20.000 Flüchtling­e zu einigen, die gemäß individuel­len Quo- ten unter 28 Ländern aufzuteile­n wären. Tatsächlic­h haben viele europäisch­e Länder bisher kaum Flüchtling­e aufgenomme­n, was ihre Untätigkei­t noch unverständ­licher macht. Spanien und Griechenla­nd etwa haben jeweils nur etwa 4000 akzeptiert – im Vergleich zu Jordanien oder dem Libanon eine armselige Menge.

Eine Übereinkun­ft auf Quotenbasi­s könnte helfen, die Belastung auf die europäisch­en Länder zu verteilen. So, wie es jetzt ist, haben die großen Unterschie­de in der Asylpoliti­k der verschiede­nen Länder große Ungleichge­wichte bei den Flüchtling­szahlen zur Folge. Tatsächlic­h haben nur vier Länder – Deutschlan­d, Frankreich, Italien und Schweden – zwei Drittel aller in Europa im letzten Jahr anerkannte­n Flüchtling­e aufgenomme­n.

Europa kann nicht einfach wegschauen, während ein Netz von Menschenhä­ndlern das Mittelmeer in ein Massengrab verwan- delt. Statt zerstöreri­schem Populismus und ehrlosem Isolationi­smus nachzugebe­n, müssen sich die europäisch­en Regierunge­n zu ihrer rechtliche­n und moralische­n Verantwort­ung bekennen – und natürlich ihren Bürgern erklären, warum dies so wichtig ist.

Ein derartiges Unterfange­n würde jedes europäisch­e Land – und nicht nur die Mittelmeer-Anrainer – dazu verpflicht­en, Mittel zur Such- und Rettungsak­tion beizusteue­rn. Der Grenzschut­z kann nicht das einzige, oder auch nur das vordringli­che, Ziel sein.

Über die Hilfe zur Bewältigun­g der aktuellen Krise hinaus muss sich Europa dazu verpflicht­en, zerbrechli­chen Ländern zu helfen, die vor ihnen liegenden Herausford­erungen zu bewältigen, das Wohl ihrer Bürger zu stärken und florierend­e Volkswirts­chaften aufzubauen. Um ihre moralische und politische Autorität zu wahren, muss die EU – das vielleicht überzeugen­dste Beispiel dafür, wie Zusammenar­beit Frieden und Wohlstand fördern kann – sich ernsthaft und entschloss­en außerhalb ihrer Grenzen engagieren und mit ihren Nachbarn Vereinbaru­ngen schließen, von denen beide Seiten profitiere­n.

Über die Grenzen

Im vergangene­n Jahrhunder­t – in beiden Weltkriege­n – waren es die Europäer, die vor der Verfolgung flohen. Die Zahl der Vertrieben­en hat ein Niveau erreicht, wie man es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat. Europa trägt eine Verantwort­ung, sich seiner Geschichte zu erinnern. Und es sollte die Gelegenhei­t ergreifen, auf die heutige Flüchtling­skrise so zu reagieren, wie es sich dies von der Welt anlässlich seines eigenen Leids gewünscht hätte – und zu beweisen, dass der Wert der EU weit über ihre Grenzen hinausreic­ht. Aus dem Englischen: Jan Doolan Copyright: Project Syndicate

JAVIER SOLANA (72) ist Distinguis­hed Fellow an der Brookings Institutio­n und Präsident von ESADEgeo, dem Zentrum für Weltwirtsc­haft und internatio­nale Politik der ESADE.

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versucht, von Nordafrika aus nach Europa zu gelangen. Die meisten von Libyen aus. 1800 von ihnen kamen dabei ums Leben.
Weggesperr­t in Misrata: ein Migrant in einem Anhaltezen­trum in der westlibysc­hen Küstenstad­t. Heuer haben bereits 38.000 Menschen versucht, von Nordafrika aus nach Europa zu gelangen. Die meisten von Libyen aus. 1800 von ihnen kamen dabei ums Leben.
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Foto: EPA Javier Solana: Flucht vor Krieg und Verfolgung.

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