Ein eisiger Hauch von Holmes
Im Tagebuch seiner Arktisreise lässt der junge Arthur Conan Doyle den Schöpfer des größten aller Detektive nur erahnen. Das aber höchst vergnüglich.
Der Autor wollte in diesem speziellen Fall nicht gelesen werden. „Nun wäre es mir in etwa ebenso lieb und eigentlich sehr viel lieber, er würde meine privaten Briefe lesen als mein Tagebuch, das ist eines der Dinge, die ich mir von niemandem gefallen lasse“, vertraute der knapp 21-jährige Arthur Conan Doyle (1859–1930), Schiffsarzt des schottischen Walfängers Hope, am 13. Mai 1880 ebendiesem Tagebuch an. Und tatsächlich hätten nach dem Ersten Maschinisten McLeod wohl nur noch ein paar auf den arktischen Robbenund Walfang des ausgehenden 19. Jahrhunderts spezialisierte Wissenschaftler dieses rund 25.000 Worte und 70 Skizzen umfassende Journal einer sechsmonatigen Reise konsumiert, wäre Doyle nicht Jahre später mit Detektivgeschichten auffällig geworden.
Freilich wäre es überaus reizvoll, im noch nicht fertigen Mediziner Doyle, der von heute auf morgen für einen verhinderten Kollegen einspringt, um im Polarmeer Abenteuer, Prüfungsaufschub und ordentliche Bezahlung zu genießen, schon deutlich den Schöpfer der Kunstfigur Sherlock Holmes hervortreten zu sehen. Das löst das Konvolut aus zwei Notizheften, das 2004 eine vergebliche Runde bei Christie’s drehte, im Familienbesitz verblieb und im September 2012 von The British Library unter dem Titel Dangerous Work erstveröffentlicht wurde, allerdings gar nicht ein.
Von Peterhead aus über die Shetland-Inseln ins Polarmeer ist es zu Doyles Verblüffung eher ein Katzensprung. Knapp sind auch die Eintragungen des wenig geforderten Mediziners. Dass die Hope bald einen Mann an eine Darmerkrankung verliert, kann er mit seinen limitierten Mitteln und Kenntnissen nicht verhindern. Richtige Langeweile kommt selbst in der Wartezeit bis zum Anheben der Robbensaison – schon 1880 war die Bedeutung von Schonzeiten bekannt – nicht auf. Doyle boxt derart beeindruckend, dass der Empfänger eines Veilchens vermeint, noch nie mit einem derart famosen Schiffsarzt gereist zu sein. Er liest gute Bücher („begann Carlyles Hero Worship. Ein großes, herrliches Buch“), besucht mit seinem verehrten Kapitän John Gray in der Nähe liegende Schiffe, singt und diskutiert über Gott und die Welt, führt Gespräche über „den Krieg, Politik, den Nordpol, Darwinismus, Frankenstein, Freihandel und lokale Angelegenheiten“.
Anfang April geht es dann, so es das Wetter, die See und die Eisverhältnisse zulassen, ans Eingemachte, ans Töten im großen Stil. Trotz Doyles Ungeschicklichkeit – „Heute dreimal ins Polarmeer gefallen“– darf der Schiffsarzt, von der Crew „großer Eistaucher“genannt, mitmachen beim Abschlachten der Robben. Stimmen die Bedingungen, ist das mit dem Gewehr für die Alt- und dem Knüppel für die Jungtiere nicht sonderlich schwer, wenn auch anstrengend, weil die Beute oft nur weit vom Schiff entfernt zu meucheln ist. Bis zur Heimkehr im Au- gust wird die Hope mehr als 3600 Robben aller Arten töten, aber nur zwei Grönlandwale, die wegen ihres Öls, vor allem aber wegen ihres aus den Barten gewonnenen Fischbeins zur Herstellung von Korsettstäben, Sonnenschirmstreben und Peitschen ein Vermögen einbringen. Die Reise ist kommerziell ein Fehlschlag, ein Vorbote der Entwicklung, die nur wenige später zur Einstellung zumindest des schottischen Walfangs in der Arktis führt.
Doyle, der auch diverse Vögel zur Konservierung erlegt, bei der Jagd auf Eisbären aber kein Glück hat, räumt ein, an einer brutalen Arbeit teilgenommen zu haben, „wenn auch nicht brutaler als die, die überall im Land für das Fleisch auf dem Mittagstisch sorgt“. Unerbittliche Nachfrage erzeuge unerbittliche Beschaffung.
Die Auswahl an Zeichnungen, die den gewohnt gediegenen Band der deutschen Erstausgabe des Mare-Verlags schmücken, veranschaulichen diese unerbittliche Beschaffung in fast putzigen Bildern. Komplettiert wird die litera- rische Entdeckung durch Doyles Schriften über die Arktis, die Lebenschronik des Schriftstellers und einen Essay über die Tierwelt der Arktis anhand der Doyle’schen zoologischen Liste.
Der Tagebuchschreiber kehrte nie wieder in die Arktis zurück. Ein Angebot schlug Doyle auch deshalb aus, weil er fürchtete, wie jene Reisenden zu enden, die bis ins hohe Alter, vom Jagdfieber, Gewinnstreben und der Sehnsucht nach den polaren Welten gepackt, keinen Sommer mehr in der Heimat erleben.
Gleichwohl kommt Doyle in seinen Werken noch mehrmals auf jene Monate in der Arktis zurück, nicht zuletzt in seiner Autobiografie Memories and Adventures und in der Holmes-Geschichte The Adventure of Black Peter. In der wird ein Walfangkapitän mit einer Harpune in der Brust – „festgenagelt wie ein Käfer auf einem Stück Karton“– aufgefunden. Da ist Doyle schon der Doyle des größten aller Detektive, will natürlich gelesen werden. Und wird es, auch immer wieder.
Arthur Conan Doyle, „Heute dreimal ins Polarmeer gefallen. Tagebuch einer arktischen Reise.“€ 28,80 / 336 Seiten. Mare-Verlag, Hamburg 2015