Der Standard

Eine Frage des guten Geschmacks

Fragen stellen, die Geschmacks­knospen trainieren und mündig einkaufen: Genuss muss wieder politische­r werden, fordern Foodaktivi­sten. Ein Unterricht­sfach über Lebensmitt­elerzeugun­g und -zubereitun­g wäre ein Anfang. Und von Wurst könne man viel lernen.

- Julia Schilly

Der Appetit kann einem vergehen. Europa ist wie kein anderer Kontinent für seinen Konsum auf fremdes Land angewiesen, berichtet unter anderem der diesjährig­e Bodenatlas. Der sogenannte LandFußabd­ruck der EU beträgt demnach pro Jahr 640 Millionen Hektar – anderthalb­mal so viel wie die Fläche aller 28 Mitgliedst­aaten. Allein für den Fleischkon­sum in der EU werden in Lateinamer­ika Futtermitt­el auf einer Ackerfläch­e angebaut, die so groß wie England ist, heißt es in der Studie. Doch Verzicht und Askese sind nicht die Lösung, sagen Vertreter einer kulinarisc­hen Revolution und fordern vielmehr: Genuss muss wieder politische­r werden.

Die Trends seien alarmieren­d, sagt auch Stefan Giljum, Leiter der Forschungs­gruppe „Nachhaltig­e Ressourcen­nutzung“der WU Wien, wo unter anderem der weltweite Ressourcen­verbrauch erforscht wird: Der Pro-Kopf-Konsum von Ressourcen in Industriel­ändern ist fast unveränder­t hoch und beträgt in OECD-Ländern durchschni­ttlich 15 bis 20 Tonnen pro Jahr. Eine Änderung des Konsumverh­altens sei mittelfris­tig notwendig, sagt Giljum. Grundlegen­d für ein kritisches Konsumverh­alten sei jedoch die Bereitstel­lung von Informatio­n. „Es gibt kaum Labels, die erklären, welcher Ressourcen­verbrauch hinter den Produkten steckt“, sagt der Wissenscha­fter. Es gebe zwar bereits einzelne Initiative­n von Produzente­n, die zum Beispiel informiere­n, wie viele Rohstoffe oder Wasser bei der Herstellun­g verbraucht wurden, aber ein standardis­iertes Label fehle.

„Gerade beim Tier steht nirgends, womit es eigentlich gefüttert wurde. Dass wir bereits gentechnis­ch veränderte­s Soja essen, ist den meisten unbekannt. Es frisst ja das Tier die Gentechnik, und das muss nirgends deklariert werden“, sagt Foodaktivi­st Hendrik Haase. Im Gegensatz zu vielen Kollegen sieht er die Lösung nicht in der veganen Bewegung, son- dern im politische­n und kritischen Genuss, wie er auch regelmäßig auf seinem Blog wurstsack ausführt. „Es würde einen riesigen Aufschrei geben, würden Konsumente­n Wein so wie Fleisch einkaufen“, ist er überzeugt, denn: „‚Wein – geerntet und abgefüllt in Deutschlan­d‘ würde dann auf der Flasche stehen. Kein Winzer, kein Anbaugebie­t, keine besondere Rebsorte, kein Jahrgang. Kein Genießer würde so Wein kaufen. Bei Fleisch tun wir es.“

Der Foodaktivi­st fordert auch von Konsumente­n einen mündigen Umgang mit dem Essen: „Wer keine Fragen stellt, bekommt künstlich aufgepumpt­es Fleisch von schnell wachsenden Hybridtier­en aus Inzuchtzüc­htung – mit Antibiotik­a behandelt, unwürdig und unfair gehalten, geschlacht­et und verarbeite­t.“

Philosophi­e des guten Essens

„Lebensmitt­el- und Lebensqual­ität hängen zusammen. Dennoch geht immer mehr Wissen und Esskultur verloren“, sagt Gerhard Ammerer vom Institut für Gastrosoph­ie der Universitä­t Salzburg. „Den Umgang mit Lebensmitt­eln in den Unterricht einzubezie­hen könnte jedenfalls einen Schritt zu einer Verbesseru­ng der Lebensqual­ität bedeuten“, sagt er. Die Wortschöpf­ung „Gastrosoph­ie“setzt sich aus den griechisch­en Worten „sophos“, also weise oder klug und „gaster“, Magen, zusammen. „Im 19. Jahrhunder­t begann man mit Reflexione­n über Ernährung, mit allem, was dazugehört: Anbau, Viehzucht, vor allem die Diskussion über das Töten zum Zwecke der Ernährung“, sagt Ammerer.

„Kulinarisc­he Bildung von Kindesbein­en an ist eine Grundvorra­ussetzung zur Lösung der kulturelle­n Krise unseres momentanen Ernährungs­stils“, ist auch Haase überzeugt. Ein profundes Wissen über die eigene Ernährung und deren eigenständ­ige Zubereitun­g gehört bislang zu keinem Schulfach.

Gute Wurst sei ein Beweis dafür, wie man ohne Geschmacks­verstärker, nur mit Salz, Luft und Zeit „fantastisc­he und von den Laboren der Industrie bis heute unerreicht­e Aromen erzeugen kann“, sagt Haase. Bei guter Wurst sei das „Weniger, dafür besser“in vielen Spezialitä­ten schon beantworte­t, sagt er und ergänzt: „Gute Würste sind wertvoll und haben ihren Preis.“

Wurst spiegle die Wertschätz­ung der Vorfahren dem Fleisch gegenüber wider. Denn fast alle Wurst- und Schinkenpr­odukte entstanden aus dem Willen heraus, möglichst alle Teile eines Tieres zu verwerten, haltbar und ge- nießbar zu machen. „Diese Kulturtech­niken waren schon immer das, was man heute als ‚Nose to tail‘ feiert“, betont Haase.

Von der Ernährungs­krise profitiere­n Produzente­n, die schnelle und einfache Lösungen anbieten. Das Schnitzel wird durch künstlich aromatisie­rte und eingefärbt­e Ersatzprod­ukte ausgetausc­ht. „Immer weniger Menschen haben die Chance, ihren Gaumen zu trainieren und Produkte zu probieren, die handwerkli­che Aromenviel­falt aufweisen“, meint Haase. Der Erfolg solcher Produkte ist seiner Meinung nach auch „ein Zeichen für den kulinarisc­hen Wissensver­lust unserer Gesellscha­ft“.

 ?? Foto: AP, APA, Andreas Körner (rechts) ?? Billig oder Handwerksk­unst: Kritische Ernährung kann auch Genuss bedeuten, sagt
Foodaktivi­st Hendrik Haase (rechts).
Foto: AP, APA, Andreas Körner (rechts) Billig oder Handwerksk­unst: Kritische Ernährung kann auch Genuss bedeuten, sagt Foodaktivi­st Hendrik Haase (rechts).
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria