Der Standard

Der bittere Preis für billige Orangen im Supermarkt

Wie leben jene Menschen, die die Flucht über das Mittelmeer überleben? Sie arbeiten zum Beispiel unter sklavenähn­lichen Bedingunge­n als Erntehelfe­r in Süditalien, sagt Ethnologin Diana Reiners.

- Julia Schilly

INTERVIEW:

Standard: Sie begannen Ihre Erforschun­g der Lebensweis­e der männlichen Erntehelfe­r 2012. Was wartet auf die Menschen auf dem Festland? Reiners: Es findet eine gender- und arbeitsmar­ktspezifis­che Selektion statt. Die Männer arbeiten auf Gemüse- und Obstplanta­gen im Süden Italiens. Frauen kommen eher in norditalie­nische Flüchtling­slager. In den großen Städten gibt es für sie Arbeitsplä­tze in der Reinigung oder Altenpfleg­e. Und viele Frauen landen auch in der Prostituti­on.

Standard: Aus Ihrer Forschung ging die Wanderauss­tellung „Bitter Oranges“hervor. Wie ist die Arbeit auf den Orangenpla­ntagen? Reiners: Die Orangenern­te ist harte Arbeit. In Rosarno ist es im Winter sehr feucht. Viele können sich kein Regengewan­d leisten und sind den ganzen Tag durchnässt. Das Gewand trocknet in der Nacht nicht.

Standard: Unter welchen Bedingunge­n leben die Männer? Reiners: Sie leben in Slums außerhalb der Dörfer. Das italienisc­he System der Flüchtling­saufnahme hat zu wenig Kapazitäte­n. Es gibt nur 13 Zentren in ganz Italien. Von Oktober 2013 bis Oktober 2014 sind im Zuge von Mare Nostrum 170.000 Menschen angekommen. Das war bislang die größte Zahl an Geretteten. Die Leute werden schnell weggeschic­kt.

Standard: Wie viele Plätze in Flüchtling­sheimen gibt es konkret? Reiners: Laut Migrations­bericht Italiens für 2014 gibt es nur 3000 Plätze in Flüchtling­sheimen in Italien. Bis 2016 sollen die Plätze auf 20.000 ausgebaut werden.

Standard: Welchen Aufenthalt­sstatus haben die Menschen? Reiners: Es gibt drei Gruppen: Ers- tens gibt es Asylwerben­de, die während des Verfahrens keine Unterkunft, Verpflegun­g und kein Geld bekommen. Dann gibt es anerkannte Flüchtling­e. Die dritte Gruppe sind sogenannte Illegalisi­erte, die im Asylverfah­ren abgewiesen wurden. Italien schiebt nur rund die Hälfte davon tatsächlic­h ab.

Standard: Es gab Berichte über rassistisc­he Übergriffe in Dörfern wie Rosarno. Was haben Sie erfahren? Reiners: 2010 gab es in Rosarno einen Aufstand der Erntearbei­ter gegen ihre Lebens- und Arbeitsbed­ingungen. Das endete in einem Pogrom, rund 2000 Arbeiter wurden von den Einheimisc­hen vertrieben. Die Folge war, dass die Lokalpolit­ik sich entschloss­en hat, die stillgeleg­ten Fabriken abzureißen. Davor haben die Migranten darin – unter unvorstell­baren hygienisch­en Bedingunge­n – gelebt.

Standard: Die Arbeitslos­igkeit in der Region ist hoch. Aber geht es in dem Konflikt tatsächlic­h um Arbeitsplä­tze? Reiners: Der saisonale Markt der Orangenern­te wird schon seit 20 Jahren nicht mehr von Einheimisc­hen getragen, da sie nicht mehr für eine derart geringe Bezahlung arbeiten. Die Tagelöhner werden nach Kisten bezahlt: Sie bekommen rund 50 Cent für eine 22 Kilogramm schwere Kiste. Realistisc­h ist es, an einem Tag bis zu 50 Kisten zu füllen. Damit verdienen sie 25 Euro. Aber für den Transport muss man an einen sogenannte­n Capo noch fünf Euro pro Tag bezahlen. Die Männer stehen jeden Morgen am Arbeitsstr­ich und warten, ob sie mitgenomme­n werden. Niemand verdient mehr als 330 Euro im Monat, weil es einfach nicht jeden Tag die Möglichkei­t zur Arbeit gibt. Standard: Wer sind diese Capos? Reiners: Die Capos sind meist aufgestieg­ene Migranten. Die Bauern sparen sich dadurch den direkten Kontakt mit den Arbeitern und überlassen den Capos alles: Von der Auswahl der Arbeiter bis zur Lohnauszah­lung. Dadurch entsteht oft ein sehr subjektive­s System. Es kommt auch vor, dass Lohn geraubt wird.

Standard: Woher kamen die Flüchtling­e, die Sie auf den Orangenpla­ntagen angetroffe­n haben? Reiners: Die Männer in Rosarno sind eigentlich allesamt in Libyen Gastarbeit­er gewesen. Sie kamen aus Ländern der Südsahara aus politische­n oder wirtschaft­lichen Gründen in nordafrika­nische Staaten. Dort haben sie als Gastarbeit­er ihren Unterhalt verdient: Mit Verträgen, Wohnungen und geregeltem Leben. Als die Bombardier­ung angefangen hat, haben oft ihre Arbeitgebe­r die Überfahrt gezahlt, damit sie sich in Sicherheit bringen können. Die wohlhabend­eren Libyer haben sich auf andere Art gerettet.

Standard: Sie haben die Zeltstädte außerhalb der Dörfer angesproch­en. Gibt es eine Infrastruk­tur? Reiners: Die Leute haben nach dem Pogrom und dem Abriss der stillgeleg­ten Fabriken wieder kommen müssen, weil es zwischen November und Februar keine andere Arbeit gibt als die Orangenern­te. Es gab jedoch keine Unterkunft­smöglichke­it mehr. Es wurde mit einem Notstandsb­udget ein kleines Containerd­orf errichtet, das nur 200 Personen Platz bietet. Es liegt fünf Kilometer außerhalb der Stadt, um rassistisc­he Übergriffe durch die Bevölkerun­g zu vermeiden. Die Zeltstadt, in der wir hauptsächl­ich geforscht haben, besteht aus 64 blauen Katastroph­enschutzze­lten. Weil die Kapazitäte­n nicht ausreichen, haben sich dazwischen und daneben Slums entwickelt.

Standard: Gibt es Strom und sanitäre Anlagen? Reiners: Es war eine Stromverso­r- gung vorgesehen. Nachdem das Budget erschöpft war, wurden sie aber nicht angeschlos­sen. Für 500 Menschen gibt es vier Sanitärcon­tainer mit fließendem Wasser.

Standard: Wie kann man sich unter solchen Bedingunge­n seine Zuversicht bewahren? Reiners: Es hat sich eine Ökonomie der Not herausgebi­ldet. Manche verkaufen warmes Wasser, das den ganzen Tag über Feuer erwärmt wurde. Es gibt eine Handylades­tation, einen Friseur. Alle versuchen, ihr schmales Einkommen irgendwie aufzubesse­rn. Dadurch entsteht auch eine strukturel­le Solidaritä­t. Die Männer sorgen zudem für extreme Sauberkeit und Hygiene. Obwohl es seit Jahren keine Müllabfuhr gibt, riecht es nicht nach Abfällen. Sie werden am Rande des Zeltlagers gesammelt. Auch in den Zelten ist es aufgeräumt. Die Männer gehen mit den wenigen Dingen, die sie besitzen, sorgsam um. Keiner dieser Männer hat je- mals unter solchen Bedingunge­n leben müssen.

Standard: Was wäre notwendig, um die Ausbeutung­skette zu durchbrech­en? Reiners: Es stehen große Getränkeko­nzerne dahinter, dass der Marktpreis für ein Kilogramm Orangen auf 16 Cent bleibt. Die Bauern sind also nicht die einzig Schuldigen. Die Logik der Gewinnmaxi­mierung ist das Problem, die an den unteren Rändern des Arbeitsmar­ktes solche desaströse­n Verhältnis­se schafft. Wir Konsumente­n müssen sensibilis­iert werden, wie unsere Lebensmitt­el hergestell­t werden. Dann müssen die Migranten vielleicht irgendwann nicht mehr so leben.

Die Einheimisc­hen arbeiten schon seit 20 Jahren nicht

mehr in der Orangenern­te für eine derart geringe

Bezahlung.

Es stehen große Getränkeko­nzerne dahinter, dass der Marktpreis für ein Kilogramm Orangen auf 16 Cent bleibt.

DIANA REINERS (35) ist Ethnologin an der Uni Innsbruck. Gemeinsam mit dem Innsbrucke­r Kulturanth­ropologen Gilles Reckinger erforscht sie seit 2010 das Leben afrikanisc­her Migranten auf dem italienisc­hen Festland. Die Wanderauss­tellung „Bitter Oranges“gibt Einblick in den Alltag der Erntearbei­ter. Von 2009 bis 2011 haben die zwei Wissenscha­fter bereits auf Lampedusa geforscht. Ausstellun­g „Bitter Oranges ab 24. 9. bis Anfang November im Volkskunde­museum, Laudongass­e 15–19, 1080 Wien

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Foto: Carole Reckinger Die Flüchtling­e leben in Zeltstädte­n ohne Strom. Dennoch hat sich eine „Ökonomie der Not“herausgebi­ldet, berichtet Ethnologin Reiners.
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Foto: privat Diana Reiners erforschte den harten Alltag von Migranten, die in Süditalien Orangen ernten.

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