Der Standard

Schrein einer Einwandere­rnation

Nach den Verwüstung­en durch den Hurrikan Sandy wird Ellis Island nun langsam wieder aufgebaut. Die Insel steht für die aufgeklärt­e Willkommen­skultur der USA. In Wahrheit herrschte dort ein Kontrollre­gime, das je nach politische­r Wetterlage mal lockerer,

- Amerika und die Amerikaner,

REPORTAGE:

Allein schon die Anfahrt! Unter einem postkarten­blauen Himmel gleitet das Schiff über die Wellen, drosselt das Tempo, kreist um die Freiheitss­tatue, damit man sie von allen Seiten betrachten kann, die Lady Liberty mit Strahlenkr­one und hoch erhobener Fackel. Dann weiter, es dauert nur ein paar Minuten, nach Ellis Island. Vom Wahrzeiche­n der offenen Tore Amerikas zum Pförtnerhä­uschen der Neuen Welt, wie die Insel in der Mündungsbu­cht des Hudson auch genannt wurde. Was für ein Kontrast!

Fred Voss balanciert über Trümmer, er führt durch die Ruinen eines Krankenhau­ses. Fenster ohne Scheiben. Bröckelnde­r Putz. Aufgequoll­ene Dielen. Waschbecke­n, an denen sich seit Jahrzehnte­n keiner mehr wusch. Die Klinik zu renovieren, das dauert. „Save Ellis Island“, eine Bürgerinit­iative, der auch Voss als Freiwillig­er angehört, sammelt Geld dafür. Aber noch ist eine Hälfte der Insel Ruinenland­schaft. Als der Hurrikan Sandy vor drei Jahren eine Sturmflut auslöste und das Wasser stellenwei­se zwei Meter hoch stand, mussten sie erst mal aufräumen, bevor an Aufbauarbe­iten zu denken war.

„Aufgepasst, drüben ist neulich ein Teil der Decke herunterge­kommen“, warnt Voss. Am Ende leerer Korridore taucht hier und da ein großflächi­ges SchwarzWei­ß-Foto auf. Seit ein paar Monaten nutzt der französisc­he Street-Art-Künstler JR den morbiden Charme des Verfalls, um daran zu erinnern, wie sie aussahen, die Menschen, die mit ihren klobigen Seekisten hier landeten. Sie legten Wert auf ihre Würde. JR zeigt ganze Familien im Sonntagsst­aat, Männer mit schnurdünn­en Krawatten, Frauen mit Broschen am Revers ihrer Mäntel.

Eigentlich ist Ellis Island ja ein Nationalhe­iligtum. Es steht auf einer Stufe mit Plymouth Rock, dem Felsen in Massachuse­tts, wo 1620 die Pilgerväte­r der Mayflower an Land gegangen sein sollen. Der Schrein einer Einwandere­rnation, nur eben einer, der in den 1980er-Jahren, als man sich der vergessene­n Insel zu erinnern begann, doch ziemlich verklärt worden ist zu einem Ort aufgeklärt­ester Willkommen­skultur.

Regime der Kontrolle

In Wahrheit verband sich mit dem Namen Ellis Island ein Kontrollre­gime, das mal mehr, mal weniger strikt gehandhabt wurde. Über zwölf Millionen Menschen standen von 1892 bis 1924 Schlange in der Great Hall, der Haupthalle. Allesamt Schiffspas­sagiere, die die ermüdende Atlantikpa­ssage in quälender Enge auf den Zwischende­cks der Ozeandampf­er verbracht hatten. Wer sich erste oder zweite Klasse leisten konnte, durfte am Übersee-Kai Manhattans von Bord gehen. Die anderen wurden auf Barkassen nach Ellis Island gebracht.

Die Erste war, am 1. Jänner 1892, Annie Moore, eine Fünfzehnjä­hrige aus Irland. Der Überliefer­ung nach soll ihr ein kräftiger Landsmann namens Mike Tierney zu der Ehre verholfen haben, indem er einen Österreich­er, der am Landungsst­eg noch an vorderster Stelle stand, kurzerhand am Kragen packte und ihn mit den Worten „Ladies first!“zwang, dem Mädchen den Vortritt zu lassen.

Wie sich Phasen relativ offener Arme mit restriktiv­eren abwechselt­en, diese Geschichte lässt sich schon am Beispiel zweier Direktoren erzählen. Der erste, John Baptiste Weber, ein früherer Kongressab­geordneter aus Buffalo, stand ebenso symbolisch für eine großzügige Auslegung der Paragrafen, wie sein Nachfolger William Williams für eine engere stand.

Bevor er den Posten übernahm, war Weber mit dem Arzt Walter Kempster quer durch Europa gereist, von Liverpool über Antwerpen, Amsterdam und Berlin nach Moskau, Minsk, Wilna, Bialystok, Warschau und Budapest bis nach Wien, um die Motive von Auswanderu­ngswillige­n zu erkunden. Die meisten, schlussfol­gerten beide 1892 in einem Bericht, wollten Europa in dem Glauben verlassen, dass die Vereinigte­n Staaten „bessere Chancen bieten, um ein Leben auf höherem Niveau zu führen, als es in ihrer Heimat möglich ist“.

Die Übel der Einwanderu­ng seien teils reine Fiktion, teils würden sie grotesk übertriebe­n, schrieben Weber und Kempster. Die Amerikaner mögen einen Migranten nicht danach beurteilen, in welchem Zustand er sich im Augenblick seiner Ankunft befinde. „Ein Mensch, der durch Missgeschi­ck oder Verfolgung seines Vermögens beraubt wird, der Raub und Plünderung ausgesetzt war, während er vor Lasten floh, die untragbar geworden waren, … ist nach unserer Definition kein Almosenemp­fänger.“

Der Direktor Weber jedenfalls wusste sich im Einvernehm­en mit Theodore Roosevelt, dem Präsidente­n, der einer Gleichbeha­ndlung aller, unabhängig von Herkunft oder Religion, das Wort redete: Ob jemand Katholik, Protestant oder Jude sei, ob er aus England oder Deutschlan­d, Russland oder Japan stamme, „es spielt nicht die geringste Rolle“.

Diskrimini­erung „Anderer“

Ab 1910, im Weißen Haus war Roosevelt von William Taft abgelöst worden, pochte Williams, der neue Commission­er of Immigratio­n, unnachgieb­ig auf die Regel, nach der man 25 Dollar besitzen musste, als Beleg, für sich selber sorgen zu können. Zudem bevorzugte Williams Angelsachs­en und Nordeuropä­er, während er Italiener, Griechen und Juden aus Osteuropa diskrimini­erte. Erstere seien robuste Typen, verwandt mit den Pionieren der Besiedlung, wogegen Letztere, physisch oft schwach, häufig Krankheite­n einschlepp­ten.

Es liegt auf der Hand, beim Populismus eines William Willams an John Steinbeck zu denken, den Schriftste­ller, der die Realität jenseits aller Verklärung­en schilderte. Von Anfang an, schrieb Steinbeck in habe das Land seine neuen Minderheit­en scheußlich behandelt, „etwa so, wie ältere Jungen in der Schule es mit den Neueingetr­etenen tun“.

Um das Triebwerk der Unterdrück­ung und des Sadismus in Gang zu setzen, habe es genügt, dass die Neuankömml­inge demütig, arm, nicht sehr zahlreich und schutzlos waren, besonders dann, wenn ihre Haut, ihre Augen und Haare anders aussahen und wenn sie eine andere als die englische Sprache benutzten oder in einer nichtprote­stantische­n Kirche beteten.

„Die Pilgerväte­r eiferten gegen die Katholiken, und beide zusammen fielen über die Juden her. Auch die Iren mussten zum Spießruten­lauf antreten, nach ihnen die Deutschen, die Polen, die Slowaken, die Italiener, die Inder, Chinesen, Japaner, Filipinos und Mexikaner.“Das Geplänkel gegen jede Gruppe habe so lange angedauert, bis sie stark, zahlungs- und widerstand­sfähig und wirtschaft­lich unabhängig wurde – „worauf sie sich mit den ältesten Schülern zusammenta­t, um die jüngsten zu verfolgen“.

1954, als kaum noch Migranten auf Schiffen über den Atlantik fuhren, versank auch das Spital im Dornrösche­nschlaf. Ellis Island geriet in Vergessenh­eit, ehe Privatleut­e Millionen spendeten, damit wenigstens die Haupthalle restaurier­t werden konnte. In dem backsteinr­oten Gebäude, das mit seinen vier Türmen entfernt an den Londoner Tower erinnert, ist seit 1990 ein Museum untergebra­cht. Ein Museum, das zum Beispiel die Odyssee von Gemma Zitello erzählt, der ältesten Tochter Salvatore Zitellos.

Nachdem ihr Vater einen Job in den Stahlwerke­n von Youngstown, Ohio, gefunden hatte und die Familie nachholen konnte, kam die Neunzehnjä­hrige mit ihrer Mutter Anna und vier jüngeren Geschwiste­rn nach Ellis Island, wo die Behörden sie für geistessch­wach erklärten. Sosehr sich Salvatore auch bemühte, für Gemma führte kein Weg nach Ohio. Bald nach der Ankunft im Jänner 1916 starb Dionisis, vier Jahre alt, der einzige Sohn der Zitellos. Im April durfte Anna mit drei Töchtern nach Youngstown reisen, Gemma aber wurde isoliert von ihrer Familie und zurückgesc­hickt nach Italien, sobald der Erste Weltkrieg beendet war. Amerika wollte keine Pflegefäll­e, es wollte keine Vorbestraf­ten, keine Analphabet­en.

Willkür durch Beamte

Nicht nur, dass uniformier­te Beamte in der riesigen Halle Personalda­ten erfassten. Manchmal änderten sie Namen, erfanden neue, kürzten Zungenbrec­her rigoros ab. Eine der skurrilste­n Anekdoten handelt von einem Mann, der die Frage nach seinem Namen auf Jiddisch mit „Schon vergessen“beantworte­te. Fortan hieß er Sean Ferguson. Was sich noch tiefer eingegrabe­n hat ins nationale Gedächtnis, sind die Ärzte, die jeden inspiziert­en, die Kopfhaut, den Nacken, das Gesicht, die Hände, um Symptome von Krankheite­n zu entdecken.

Ab 1905 kamen Doktoren hinzu, deren einzige Aufgabe es war, die Augen zu untersuche­n. „Sehen Sie, wahre Folterinst­rumente“, sagt Voss und zeigt auf Eisenwerkz­euge, mit denen die Mediziner Lider anhoben, sodass es noch stundenlan­g schmerzte, um zu sehen, ob jemand am Trachom litt, einer bakteriell­en Entzündung des Auges. Die Schnelldia­gnose Trachom bedeutete definitiv, nicht einreisen zu dürfen. Hatten die Ärzte Grund zu der Annahme, jemand könnte von einem chronische­n Leiden befallen sein, malten sie mit Kreide ein Zeichen auf seine Kleidung. E stand für Eyes, für Probleme mit den Augen. Fast ein Fünftel aller Ankömmling­e siebte man aus, um sie genauer unter die Lupe nehmen zu können. Die Chronik des Inselspita­ls zählt rund 1,2 Millionen Patienten.

Eines will Fred Voss zum Schluss unbedingt zeigen, den Flügel für die unheilbar Kranken. Der Blick geht aufs Wasser, direkt auf die Freiheitss­tatue, und man weiß nicht, ob es ein letzter Trost sein sollte oder eher die Idee eines Zynikers war, jemanden seine letzten Tage ausgerechn­et mit so herrlicher, symbolträc­htiger Aussicht verbringen zu lassen. Wer immer dort lag, bis nach Amerika hat er es nicht geschafft, nicht im juristisch­en Sinne. Ellis Island war Niemandsla­nd.

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Verfall retten.
Foto: Herrmann Fred Voss und Mitstreite­r wollen die Insel vor dem Verfall retten.

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