Der Standard

„Stärkung der Politik des Ausgleichs“

Michael Brzoska vom Hamburger Institut für Friedensfo­rschung sieht den Nobelpreis an das tunesische Nationale Dialogquar­tett auch als Signal an die Nachbarlän­der, auf Konfrontat­ion zu verzichten.

- Florian Niederndor­fer

INTERVIEW: Standard: Das Komitee in Oslo hat das tunesische Nationale Dialogquar­tett für seine Verdienste um die junge Demokratie in dem nordafrika­nischen Land mit dem diesjährig­en Friedensno­belpreis ausgezeich­net. Hatten Sie mit dieser Entscheidu­ng gerechnet? Brzoska: Ich hatte Tunesien im Vorfeld durchaus auf meiner Liste, weil man dort in den vergangene­n Jahren viel geschafft hat, was den Preis möglicherw­eise rechtferti­gen könnte. Allerdings hatte ich nicht unbedingt mit dem Dialogquar­tett gerechnet, sondern eher mit Personen wie dem früheren Präsidente­n Moncef Marzouki.

Standard: In Ägypten regieren heute die Militärs, in Syrien und Libyen wird gekämpft. Wollte man damit ein Zeichen setzen, dass der Arabische Frühling doch nicht überall gescheiter­t ist? Brzoska: Tunesien gilt vielen als einziger Erfolgsfal­l des Arabischen Frühlings. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob etwa der Bürgerkrie­g in Syrien eine direkte Folge davon ist, haben sich in allen anderen Ländern entweder die alten Eliten wieder zurückgeme­ldet, oder es herrscht Bürgerkrie­g. Einzig in Tunesien hat der Arabische Frühling zu einer Öffnung der Gesellscha­ft geführt.

Standard: War das Quartett da federführe­nd? Brzoska: Ja, weil man es geschafft hat, eine Konfrontat­ion zwischen Islamisten und ihren eher liberalen Gegnern zu verhindern. Das Dialogquar­tett hat viele gesellscha­ftliche Gruppen zusammenge­bracht: Arbeitgebe­r, Arbeitnehm­er, große Berufsgrup­pen, vor allem Anwälte, Menschenre­chtsaktivi­sten. So hat man eine sehr breite gesellscha­ftliche Basis für Gespräche geschaffen. Das Erstaunlic­hste war, dass sich auch die damals regierende islamistis­che Ennahda-Partei an diesen Gesprächen beteiligt hat – natürlich auch aufgrund der Unruhen im Land –, freiwillig zurückgetr­eten ist und Neuwahlen ermöglicht hat. Das war der entscheide­nde Punkt, der in Tunesien zu einer Stabilisie­rung der politische­n Landschaft geführt hat. Und das ist durchaus die Leistung des Dialogquar­tetts.

Standard: Viele hatten eher Deutschlan­ds Bundeskanz­lerin Angela Merkel auf der Rechnung. Wollte man in Oslo nicht noch einmal einen aktiven Politiker auszeichne­n? Brzoska: Ich persönlich hatte Frau Merkel aufgrund der Vermittler­rolle Deutschlan­ds im UkraineKon­flikt und wegen ihrer Flüchtling­spolitik auch als eine der Favoritinn­en gesehen. Allerdings muss man beachten, dass das Nobelpreis­komitee gerne überrascht, und die Gewinner nur selten im Vorfeld unter den Favoriten waren. Merkel gehörte für mich zwar zum engeren Kreis, aber nicht mit einer höheren Wahrschein­lichkeit als zehn Prozent.

Standard: Was bedeutet der Friedensno­belpreis für die tunesische Demokratie? Brzoska: Ich denke, es bringt eine Stärkung der Politik des Ausgleichs. Die neue Regierung, die zwar konservati­v ist, aber im westlichen Sinne liberaler als die islamistis­che Vorgängerr­egierung agiert, wird sich bestärkt fühlen, auch in Zukunft alle gesellscha­ftlichen Gruppen einzubinde­n. Das dürfte in Tunesien aufgrund der wirtschaft­lichen Krise und des Drucks, der auf der Regierung lastet, nicht einfach werden. Trotzdem glaube ich, dass der Preis in Tunesien und in den Nachbarlän­dern als Signal verstanden wird, in Transforma­tionsproze­ssen den Weg des Ausgleichs zu suchen und die Gesellscha­ft möglichst breit einzubinde­n.

MICHAEL BRZOSKA (62) ist wissenscha­ftlicher Direktor des Instituts für Friedensfo­rschung und Sicherheit­spolitik an der Universitä­t Hamburg.

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Foto: Isis Martins Friedensfo­rscher Brzoska: Komitee überrascht gerne.

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