Der Standard

Migräne: Ein Knock-out im Nervensyst­em

Es gibt viele Erklärungs­modelle für Migräne. Neueste Forschunge­n zeigen, dass die Schmerzen direkt im Kopf entstehen. Dort will man sie mit molekularb­iologische­n Medikament­en blockieren – es werden Teilnehmer für eine klinische Studie gesucht.

- Kurt de Swaaf Science Translatio­nal Me-

Wien – Die Qual wird oft unterschät­zt. Manche Außenstehe­nde tun sie gar als Lappalie ab, als schlichtes Wehwehchen oder psychosoma­tisches Hirngespin­st, harmlos und nicht ernst zu nehmen. Ein gewaltiger Irrtum. „Migräne ist eine der häufigsten Krankheite­n weltweit“, betont der Neurologe Christian Wöber von der Medizinisc­hen Universitä­t Wien. Die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO führt das Leiden in ihrer globalen Statistik der schwerwieg­enden Pathologie­n, der „global burden of disease“, auf Platz sechs.

Schwere Kopfschmer­zen, häufig verbunden mit einer ausgeprägt­en Überempfin­dlichkeit gegen Sinnesreiz­e, setzen Migränepat­ienten bisweilen tagelang außer Gefecht. „Es kann die Lebensqual­ität und die Arbeitsfäh­igkeit erheblich beeinträch­tigen“, sagt Wöber. „Etwa zehn bis zwölf Prozent der Bevölkerun­g sind betroffen.“Genauere Zahlen lägen für Österreich aktuell nicht vor. Es gebe allerdings deutliche geschlecht­sspezifisc­he Unterschie­de. Migräne tritt bei etwa 20 bis 25 Prozent der Frauen auf, erklärt der Facharzt, doch unter Männern beträgt die Prävalenz nur sechs bis acht Prozent. Eine Ursache für diese ungleiche Verteilung liege in den weiblichen Geschlecht­shormonen.

Die Entstehung von Migräne wirft der Wissenscha­ft noch jede Menge Fragen auf. Lange glaubte man, Gefäßerwei­terungen im Ge- hirn seien die Wurzel des Übels. Diese Theorie geriet gleichwohl schon während der Neunziger ins Wanken. Inzwischen haben mehrere Studien gezeigt: Die Dilation der Blutgefäße ist lediglich eine Begleiters­cheinung der Krankheit ( vgl. Brain, Bd. 131. S. 2192). Der wahre Auslöser steckt offenbar im Nervensyst­em selbst.

Leider gibt es keine Labortests oder bildgebend­en Verfahren, mittels deren sich eine Migräne eindeutig feststelle­n lässt, erläutert Christian Wöber. „Die Diagnose erfolgt auf Basis ausführlic­her Gespräche mit den Patienten.“Die Symptome ergeben dennoch ein ziemlich charakteri­stisches Muster – pulsierend­e Kopfschmer­zen in Kombinatio­n mit der bereits erwähnten Überempfin­dlichkeit. Eine Migräneatt­acke kann sich auch ankündigen, zum Beispiel durch Sehstörung­en.

Was im Gehirn passiert

Nicht selten stoßen die Betroffene­n in ihrer Umgebung auf Unverständ­nis. „Migräne gehört keinesfall­s in den Bereich der psychische­n und psychosoma­tischen Krankheite­n“, stellt Wöber klar. Scanunters­uchungen haben diesbezügl­ich interessan­te Details gezeigt. In der Gehirnrind­e und im Hirnstamm sind nach Einsetzen einer Attacke deutliche Veränderun­gen sichtbar. Abnormale Nervenimpu­lse lösen in der harten Hirnhaut eine aus.

Den bisherigen Erkenntnis­sen zufolge liegt der Hauptort des pathologis­chen Geschehens im sogenannte­n trigeminov­askulären System, gesteuert durch den Drillingsn­erv. „Das ist die zentrale Schaltstel­le für sämtliche Sinnesreiz­e von Kopf und Gesicht zum Gehirn“, erklärt der Neurowisse­nschafter Simon Akerman von der New York University. Zusammen mit seinem Kollegen Peter Goadsby hat Akerman nun möglicherw­eise den biochemisc­hen Schlüssel zur Entstehung von Migräne gefunden. Die Forscher untersucht­en die Reaktionen der trigeminov­askulären Systeme von Ratten bei der Verabreich­ung zweier verschiede­ner, bereits in Verdacht stehender körpereige­ner Botenstoff­e. „Es ist uns gelungen, das, was in einem Migränepat­ienten passiert, in einem Tierversuc­h nachzustel­len“, berichtet Akerman begeistert.

Die vor wenigen Tagen im Fachjourna­l dicine veröffentl­ichten Studienerg­ebnisse zeigen: Nur einer der beiden Neurotrans­mitter, PACAP38, ist fähig, über spezialisi­erte PAC1-Rezeptoren die typischen Aktivitäts­muster auszulösen – zumindest in Ratten. Des Weiteren ließ sich feststelle­n, dass PACAP38 höchstwahr­scheinlich nicht in der Lage ist, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden. Migräne entsteht anscheinen­d im Gehirn selbst und nicht in der harten Hirnhaut oder infolge äußerer Einflüsse, lautet das Fazit der Wissenscha­fter.

Neuer Wirkmechan­ismus

Die Erkenntnis­se bieten der Pharmazie interessan­te Perspektiv­en. Kleine, künstliche Moleküle mit maßgeschne­iderter Struktur könnten die PAC1-Rezeptoren blockieren und so einem akuten Migränesch­ub entgegenwi­rken. „Sie sind ein gutes Ziel für die Entwicklun­g neuer Medikament­e“, meint Simon Akerman.

Es gibt allerdings auch einen anderen Ansatz. Das Protein CGRP spielt bei der Entstehung von Migräne ebenfalls eine zentrale Rolle. Gegen dieses wurden monoklonal­e Antikörper entwickelt. Die Wirkung ist prophylakt­isch, wie Christian Wöber erklärt. „Für Menschen, die unter häufigen Attacken leiden.“Eine internatio­nale klinische Studie mit Beteiligun­g der Med-Uni Wien startete diese Woche. Zusätzlich­e Teilnehmer sind willkommen, sagt Wöber. Interessen­ten können sich unter kopfschmer­z@meduniwien.ac.at melden.

 ??  ?? Dieses Kopfweh-Plakat entstand in Zeiten des Kubismus und veranschau­licht eindrückli­ch, was Migräne mit Menschen macht.
Dieses Kopfweh-Plakat entstand in Zeiten des Kubismus und veranschau­licht eindrückli­ch, was Migräne mit Menschen macht.

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