Im Ausnahmezustand
In Baku lehrte Sergej Karjakin den Umgang mit schwierigen Aufgaben. Von ruf & ehn
Wie gewinnt man, wenn man gewinnen muss? Das ist im Schach wie im Leben eine schwierige Aufgabe; kaum lösbar ist sie zudem, wenn das Gegenüber ebenbürtig ist und ihm ein Unentschieden reicht. Die Lage verschärft sich weiter ins Albtraumhafte, wenn der Ebenbürtige vor Selbstbewusstsein strotzt und noch dazu die weißen Steine führt.
In einer ebensolchen Situation fand sich Sergej Karjakin Anfang dieser Woche im Finale des Grand Prix in Baku wieder. Der russische Großmeister hatte zuvor unter anderem Onitschuk, Andreikin, Mamedjarov und – mit einer großen Portion Glück – Pawel Eljanow aus dem Turnier geboxt. Das Finale war auf vier Partien angesetzt, nach zwei Partien führte Karjakins Gegner Peter Swidler plötzlich mit 2:0. Karjakin musste gewinnen, noch dazu mit Schwarz, und er entschloss sich, va banque zu spielen. Was soll’s, mag er sich gedacht haben und fand sich nach 13 Zügen in folgender Position:
Swidler – Karjakin
Schafft zwar viele Schwächen im schwarzen Lager, bringt jedoch das dringend benötigte Gegenspiel. Bisher vertraute man auf 13... Da5 14.Ld2 Le6 und 13... e5 14.Se2 Le6. 14.exf5 Lxf5 15.Le4 Weiß will natürlich möglichst viele Figu- ren tauschen. 15... Dd7 16.Sd5 De6 17.Lxf5 Dxf5 18.Ld2 Tae8 19.Lc3 Swidler setzt seine Politik fort. Raffinierter war jedoch 19.De1 e6 20.Se3 Df7 21.Sg4 mit der Drohung Sh6+. 19... 20.Sb6 d5! Schwarz hat ein wenig erreicht. 21.Lxg7 Und nicht 21.cxd5?! exd5 22.Dc5 d4 mit kräftigem Gegenspiel. 21... Kxg7 22.Dc5 Wieder wäre 22.cxd5 exd5 23.Dd2 d4 bedenklich. 22... Tf6 Denn 22... d4 23.Dxf5 Txf5 24.a3 führt zu Verflachung. 23.b4 Nachteilig wäre 23.cxd5 exd5 24.Sxd5? Te2. 23... Se5 24.cxd5 Sd3 25.De3 Sxf2?! Ein geradezu verzweifelter Versuch, doch 25... Dxf2+ 26.Dxf2 Sxf2 führt zum Ausgleich. 26.Tf1 De4 Auch nach 26... Dd3 27.De5 De4 28.Dc3 steht Weiß besser. 27.Tbe1 exd5? Diese Verschärfung bringt Schwarz direkt in eine Verluststellung, aber 27... Tef8 28.Dxe4 Sxe4 29.Txf6 Sxf6 30.Txe6 ist besser für Weiß. 28.Txf2? Swidler greift in komplexer Stellung erstmals daneben. Nach 28.Dc3 Dd3 29.Dxd3 Txe1 30.Dd4 (schlechter 30.Txe1?! Sxd3 31.Te7+ Tf7) 30... Sxh3+ 31.Kh2 Texf1 32.Kxh3 behielte Weiß die Oberhand. 28... Dh4 29.Dd2?? Ein kapitaler Bock! Nach 29.Dxe8 Dxf2+ 30.Kh2 Dxb6 31.Te7+ Kh6 32.Td7 wäre die Partie aufgrund des unsicheren schwarzen Königs noch remis. 29... Txf2 Jetzt kann Weiß nicht 30.Dxf2 wegen 30… Txe1+ spielen. 30.Dc3+ d4 Weiß verliert Haus und Hof, daher 0–1. Es stand also 2 : 1, doch auch die nächste Partie musste gewonnen werden. Karjakin wechselte die Taktik: Mit Weiß wählte er nun ein ru- higes Abspiel, das dem Gegner zwar Remischancen einräumt, das aber einen lang andauernden Ringkampf verspricht – mit möglichem Übergang in den Schwitzkasten.
Karjakin – Swidler In der vierten Partie ließ Karjakin frühzeitigen Damentausch zu und vertraute auf seine Initiative. 13.Sd6+! Schafft einen Isolani auf d6. 13… exd6 14.Lxf6 Tg8 15.e4 Le6 16.Kb1 Kd7 17.Sd5 Lg7 18.Lxg7 Txg7 19.Lb5 An der Situation hat sich nichts geändert: Schwarz steht unbequem und muss abwarten, was der Gegner mit ihm zu tun gedenkt. 19... Kd8 20.Td2 Lxd5 21.Txd5 Kc7 22.Tc1 Te8 23.Td4 Karjakin hat keinen erfolgversprechenden Plan und lässt den Gegner weiter zappeln. 23... Te5 24.La4 b5 25.Lb3 Tc5! Verschafft sich durch Abtausch Erleichterung. 26.Td5 Txc1+ 27.Kxc1 a6 28.Td3 g5?! Hier konnte sich Schwarz mit 28. f5! befreien. 29.Kd2 h4 30.Tc3 Kb6 31.Td3 Kc7 32.Ke3 Geduldiges Manövrieren. 32… f6 33.Tc3 Kb6 34.Td3 Kc7 35.Tc3 Kb6 36.Ld5 Se7 37.Kd4 Der König nähert sich dem Idealfeld d5. 37... Th7 38.Le6 Th8 39.a3 Td8 40.Tc2 Th8 41.Tf2 Sg6 42.Kd5 Td8 43.Lf5 Sf4+ 44.Kd4 Nun droht 45.g3. 44... Te8?! Verabsäumt 44... d5! 45.e5 fxe5+ 46.Kxe5 d4 47.Td2 Kc5. 45.g3 Se6+ 46.Lxe6 Txe6 47.Kd5 Gewinnt den entscheidenden Bauern. 47... Te5+ 48.Kxd6 hxg3 49.hxg3 g4 Verzweiflung. 50.fxg4 Txe4 51.Tf4! Der gerade Weg. 51... Te3 52.Txf6 Txg3 53.Ke5+ Kb7 54.Kf5 Jetzt ist alles klar. 54... Tb3 55.g5 Txb2 56.g6 Der Bauer läuft nach 56… Tg2 57.Ke6 nebst Kf7. 1–0
So glich Karjakin den Score aus, doch erstaunlicherweise brach der geschockte Swidler nicht ein. Das Finale entwickelte sich zu einem Königsdrama und wurde erst nach zehn Partien (!) entschieden. Karjakin gewann am Ende die entscheidende Blitzpartie, den Titel und den Löwenanteil des Preisgeldes. Über den außergewöhnlichen Kampfgeist und Mut der Finalisten merkte das angesehene Chessbase- Magazin begeistert an, es sei „fast so wie im Frauenschach“gewesen. Wie sich die Geschlechterrollen doch ändern!