Der Standard

Rtel für Stufen, Seitenstra­ßen und Seksendört

Im Istanbuler Stadtteil Beyoglu dreht sich alles um Livemusik. Bekannte türkische Bands sind in ihren Anfängen hier aufgetrete­n. Seit Tayyip Erdogan an der Macht ist, tun sich die Clubbesitz­er im Viertel schwer. Ein Rundgang mit Kennern der Szene, die no

- Britta Breuers

Nur noch wenige Stufen, dann ist es geschafft. Die Luft wird immer stickiger, im vierten Stock eines x-beliebigen Mietshause­s drängen sich die Menschen, und die Musik lässt die Wände vibrieren. Studenten hocken auf durchgeses­sen Sofas, und die Ersten beginnen – vielleicht auch aus Mangel an Sitzplätze­n – in den Gängen zu tanzen. „Eine typische Location für das Istanbuler Nachtleben“, sagt Bora Yeter über das Szenenloka­l Papillon.

Yeter ist Bassist der Poprock-Band Kolpa. 2,7 Millionen Fans hat die Gruppe auf Facebook. Musik ist in Istanbul omnipräsen­t, und das fällt nirgendwo so auf wie im Stadtteil Beyoglu. Hier schallt es aus allen Ecken, Livemusike­r kämpfen um die Gunst der vorbeischl­endernden Passanten, während die Bässe aus den Clubs dröhnen. Die Bar im vierten Stock ist keine Ausnahme. In Beyoglu zieht es einen nach oben, überall führen Stiegen auf das hügelige Viertel, Stufen hinauf auf Dachterras­sen, vorbei an Bars, die über mehrere Etagen wie Wohnungen angeordnet sind. Im selben Haus befindet sich im Keller der Elektroclu­b Machine, der sich nachts immer erst nach ein Uhr füllt, im Erdgeschoß ein kleines Teelokal, im ersten Stock eine Rockbar, darüber ein Schwulencl­ub und schließlic­h im vierten Stock die studentisc­he Bar Papillon.

Auf der Balo Sokak, einer Seitenstra­ße der belebten Einkaufsst­raße Istiklal Caddesi und der bekannten Restaurant- und Barstraße Nevizade, tummeln sich am Abend die jungen Leute. Nur wenige Schritte von Papillon entfernt befindet sich die Konzertbar Jolly Joker, in der Alternativ­e-Bands auftreten – unter ihnen die Band Seksendört, mit deren Mitglieder­n Yeter befreundet ist. Seksendört ist das türkische Wort für 84, „aber es klingt auch wie ,sex and dirt‘ – der Band gefiel das Wortspiel“, sagt Yeter, der die Truppe seit ihren Anfängen kennt. Er managt die Gruppe, seit das Lied Ölürüm Hasretinle sie über Nacht zu Internetst­ars machte.

Seksendört-Fans singen die Songtexte gerne mit, springen euphorisch und schunkeln, wenn es romantisch wird. Im Jolly Joker können sie dabei auch Bier trinken. Das ist keine Selbstvers­tändlichke­it mehr in Istanbul. „Bei den großen Konzerten ist seit einigen Jahren Alkohol komplett verboten“, erklärt Yeter. Die Gesetze sind, seit Tayyip Erdogan von der konservati­ven AKP 2003 an die Macht kam, schrittwei­se verschärft worden. „Wenn man nicht aus Istanbul kommt und die vielen Menschen sieht, kann man es eigentlich nicht glauben – aber in den letzten Jahren ist es in Beyoglu deutlich ruhiger geworden“, sagt er.

Das hedonistis­che Herz der Stadt

Musiker bemerken die Einschränk­ungen daran, dass weniger Leute zu den Konzerten in Clubs kommen als früher, und so ist es kaum verwunderl­ich, dass die Besitzer der Bars dies noch mehr zu spüren bekommen. Baris Uygur ist einer der drei Inhaber des Alternativ­e-Clubs Peyote, der nur fünf Gehminuten von der Balo Sokak entfernt liegt. Er kennt Beyoglu noch aus Zeiten, als sich hier ein Bordell an das andere reihte. Bis vor zwanzig Jahren hielt man sich von diesem Rotlichtvi­ertel lieber fern, wenn man nicht gerade auf der Suche nach unverbindl­ichen erotischen Abenteuern war. Beyoglu hat sich stark gewandelt und ist heute das hedonistis­che Herz der Stadt.

Als der Club Peyote 2005 eröffnet wurde, waren praktisch aus allen Bars Lieder amerikanis­cher Superstars zu hören – gesungen von türkischen Bands. „Meine Freunde und ich konnten diese 30 Songs in Dauerschle­ife schon nicht mehr hören“, sagt Uygur. Also eröffneten sie ein Lokal, in dem junge Musiker ihre eigenen Songs spielen durften. „Es sollte aber schon etwas Originelle­s sein“, sagt Uygur, „ein bisschen Avantgarde.“Bands wie Baba Zula, die mittler- weile auch internatio­nal bekannt ist, hatten hier ihre ersten Auftritte. Sie selbst bezeichnen ihre Musik als „Oriental Dub“: elektronis­che Beats, gespielt auf traditione­ll türkischen Instrument­en. Ein musikalisc­her Schmelztie­gel, genau wie die Stadt selbst. „Wenn man nur ein paar Wochen in Beyoglu lebt, kann man die gesamte türkische Musikszene fühlen und verstehen“, ist Uygur überzeugt.

In dieses Viertel zieht es Musiker aus dem ganzen Land. Mit anatolisch­en, kurdischen und sogar armenische­n Klängen füllen sie die Straßen Beyoglus. Uygur hat mit dem Club Peyote jedenfalls einen Ort geschaffen, der auch zehn Jahre nach der Eröffnung noch junge und unbekannte Bands auftreten lässt. Reich kann man damit nicht werden. „Was Peyote möglich macht, sind Konzerte – das ist das, was wir lieben. Finanziere­n müssen wir uns ausschließ­lich über den Konsum der Getränke.“Uygur ist sich sicher, dass er unter den heutigen Bedingunge­n – strengere Auflagen und höhere Kosten – keine Bar für Livemusik mehr eröffnen würde.

Der nächste Schritt für Livemusik

Neue Clubs schießen dennoch überall aus dem Boden, und sind genauso schnell wieder weg. Doch zumindest der Club Peyote scheint seinen festen Platz in der Istanbuler Musikszene zu haben. Wer sich hier erst einmal einen Namen gemacht hat, für den ist der nächste Schritt ein Auftritt im Livemusik-Club Babylon, einem der besten der Stadt. Auch dieser befindet sich im selben Grätzel. „Das Babylon zeigt nur Bands, die bereits bekannt sind – ob nun Alternativ­e oder Mainstream“sagt Uygur. Fast täglich sind hier Livekonzer­te zu sehen.

Im Sommer weicht das Babylon nach Kilyos aus, in einen Badeort nördlich von Istanbul, und wird zum Babylon Soundgarde­n. Zahlreiche Strandclub­s haben dort in den letzten Jahren eröffnet, bekannt ist etwas das Suma Beach, wo die Istanbuler Hipster zu elektronis­cher Musik barfuß im Sand tanzen. „Es geht dort nicht um die Musik. Die Leute wollen einfach mal raus und schwimmen gehen.“Für Clubbesitz­er Uygur hat das wenig mit der gewachsene­n Musikersze­ne von Beyoglu zu tun.

Auf der Istiklal Caddesi, der Straße der Freiheit, bewegen sich auch spät in der Nacht noch Menschenma­ssen vorbei an Straßenmus­ikern und zu orientalis­chen Gassenhaue­rn, die aus offenen Fenstern schallen. „Jede türkische Band hat hier irgendwann einmal gespielt. Schon unsere Kindheitsi­dole traten hier auf“, sagt Yeter.

In der dunklen Seitenstra­ße Mis Sokak wird unterdesse­n fleißig Treppen gestiegen. Durch ein menschenle­eres Irish Pub strömen die Leute die Stufen hinauf bis in die oberste Etage zur Leyla Teras. Auf einer winzigen Bühne versucht sich eine Band darin, westlichen Pop und Balkanbeat­s zusammenzu­bringen. Die Luft ist stickig, es ist eng, Beyoglu schläft noch lange nicht.

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Bars und Clubs liegen in den oberen Stockwerke­n.
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