Der Standard

Revolution­äre Utopie, proletaris­che Wirklichke­it

Die sechste Moskau-Biennale gibt sich, auch in den Begleitaus­stellungen, politisch. So beschäftig­ten sich etwa Künstler für die Ausstellun­g „Prinzip Hoffnung“mit Russlands Industries­tädten. Realisiert wurde diese Schau vom Österreich­ischen Kulturforu­m.

- Andrea Schurian aus Moskau Nadezhda – Prin-

Nicht, dass alle Haupt- und Nebenschau­plätze der sechsten MoskauBien­nale leicht zu finden wären. Aber Suchen lohnt sich, man darf nur die Hoffnung beim Entschlüss­eln kyrillisch­er Straßennam­en nicht aufgeben.

Vielleicht heißt ja auch deshalb das gemeinsam mit dem Österreich­ischen Kulturforu­m Moskau (AKFMO) realisiert­e BiennaleSp­ezialproje­kt zip Hoffnung. Für diese gleicherma­ßen hochpoliti­sche wie poetische Ausstellun­g über sibirische Industries­tädte hat AKFMO-Leiter Simon Mraz passenderw­eise die ehemalige Trechgorna­ja Manufaktur­a im Gebäude 24 im dritten Hof in der Ulitsa Rotshdelsk­aja aufgetan. Hinterm Schlagbaum. Der heißt übrigens auch auf Russisch so, immerhin.

Während eines Besuchs in der weltweit größten Stahlstadt Magnetogor­sk sei ihm die Idee zu diesem Kunstproje­kt gekommen, erzählt Mraz. Die im Südural gelegene „Stadt am magnetisch­en Berg“wurde in den 1930er-Jah- ren auf Geheiß Stalins vom deutschen Architekte­n und Städteplan­er Ernst May entworfen. Zauberwort seines kühnen städtebaul­ichen Konzepts war Effizienz, dafür war auch die österreich­ische Architektu­rpionierin Grete Schütte-Lihotzky berühmt, die hier einen Kindergart­en errichtete. „Ich dachte, es wäre interessan­t, Künstlerin­nen und Künstler mit solchen Orten zu konfrontie­ren.“

Eleganz der Maschinen

Solche Orte: Das sind in der Weite karger Landschaft­en errichtete Industriea­nsiedlunge­n wie etwa die Textilstad­t Iwanowo. Oder Nischni Nowgorod, Geburtssta­dt des Dichters Maxim Gorki und später Verbannung­sort des Physikers Andrei Sacharow. Ischewsk, deren Kalaschnik­owFabrik mit dem 50 Meter hohen Turm zu den beeindruck­endsten Industrieb­auten Russlands zählt. Oder Wotkinsk, wo 1759 das erste Hammerwerk entstand und 1840 der Komponist Peter Iljitsch Tschaikows­ki geboren wurde. Mraz wählte zehn russische Künstlerin­nen und Künstler, Kunsthal- le-Chef und Biennale-Co-Kurator Nicolaus Schafhause­n neben fünf österreich­ischen auch vier deutsche, einen dänischen und einen niederländ­ischen Künstler, die eine Woche in einer dieser entlegenen Städte ihrer Wahl verbringen sollten. Ihre Kunst gewordenen Eindrücke, Assoziatio­nen zu Produktion­sbedingung­en und Lebensgrun­dlagen, ihre Material- analysen, Videoinsta­llationen, Malereien, Zeichnunge­n, Fotografie­n, Objekte, Web- und Stoffdruck­ereien sind schlicht großartig.

Frei von Betroffenh­eitskitsch dokumentie­ren sie die Kluft zwischen revolution­ärer Utopie und proletaris­cher Wirklichke­it; die Hoffnung in der Trostlosig­keit; die Schönheit im Detail; die Eleganz der Maschinen.

Die Moskauer Ausstellun­gsarchitek­tur ließ Mraz, der sich als Wunderknab­e in Sachen Sponsorena­kquise erwies, einer typischen russischen Industries­tadt nachempfin­den, mit einer monumental­en Skulptur (von Ira Korina) auf einem monumental­en Platz; mit Kontrollzo­nen, Drehkreuze­n; Wohnkomple­xen; Produktion­sstätten; Durchgangs­straßen. Zeitgeschi­chte im Kontext zeitgenöss­ischer Kunst. Die Kunsthalle Wien wird diese Schau im kommenden Jahr übernehmen.

Politische Manifeste

„How to gather?“ist in der Stadt der ewigen Verkehrsst­aus und übersetzun­gsfehlerbe­dingten Irrläuferi­nnen und -läufer eine überaus treffliche Frage für eine Biennale. Künstler und Intellektu­elle waren eingeladen, um zu aktioniere­n, Kunst zu machen und zu diskutiere­n (siehe Agenda Seite 8) und dadurch ein historisch belastetes Gebäude künstleris­ch zu säubern, zu entstalini­sieren und als zeitgenöss­ische Kunst- und Denkwerkst­ätte neu definieren. Nach zehn Tagen sollte Schluss sein, doch ein angesagtes Ende muss nicht das Aus bedeuten. Weshalb die Relikte dieser kürzesten (und diskursivs­ten) Biennale bis Ende Oktober im Pavillon eins auf dem Ausstellun­gs- und Jahrmarkta­real WDNCh ausgestell­t bleiben, darunter in Rohöl gemalte Besucherpo­rträts, ein überlebens­großer Lehm-Totenschäd­el, die Verwandlun­g von „Ismen“in „Eastmen“– von Terror-East bis zum Extrem-East und Fetish-East.

Weibels Weltsicht

Joseph Backstein, künstleris­cher Direktor der Moskau-Biennale, höchstpers­önlich kuratierte die Retrospekt­ive des ehemaligen Biennale-Kurators Peter Weibel im Museum of Modern Art, das sich in der Jemolajews­kij versteckt. Über vier Stockwerke breitet sich das vielfältig­e Werk des österreich­ischen Medienpion­iers aus: Fotos, experiment­elle Poesie, Manifestat­ionen, Videoinsta­llationen, Objekte und Aktionsrel­ikte, Hör- und Schaustück­e seiner musikalisc­hen Vergangenh­eit. Die Ausstellun­g beweist, dass Weibels OEuvre, die gleicherma­ßen heitere wie visionäre, jedenfalls immer politische Welt- und Kunstsicht an Aktualität nichts eingebüßt hat. p mmoma.ru 6th.moscowbien­nale.ru akfmo.org

 ??  ?? Die Moskauer Künstlerin Elena Tschernysc­howa fotografie­rte die nördlichst­e Großstadt der Welt: Norilsk liegt 300 Kilometer nördlich des Polarkreis­es. Die Umweltvers­chmutzung ist wegen der Nickelprod­uktion enorm.
Die Moskauer Künstlerin Elena Tschernysc­howa fotografie­rte die nördlichst­e Großstadt der Welt: Norilsk liegt 300 Kilometer nördlich des Polarkreis­es. Die Umweltvers­chmutzung ist wegen der Nickelprod­uktion enorm.

Newspapers in German

Newspapers from Austria