Der Standard

„Tanz hatte immer eine Ritualhaft­igkeit“

Der deutsche Choreograf Tino Sehgal im Gespräch

- Helmut Ploebst Berliner Zei- New York Times Instead of allowing ...

Wien – Das deutsche Feuilleton ist fasziniert von Tino Sehgal. Dem Spiegel gilt er als „einer der ungewöhnli­chsten“, der ARD als „einer der bedeutends­ten Künstler der Gegenwart“. In der tung heißt es: „Mit üblichem Maß ist seine Kunst nicht zu messen.“Die hält diese Arbeiten für „really addictive“. Im Big Apple räumte das Guggenheim Museum seine große Spirale für Sehgal aus. Außerdem war er in der Londoner Tate zu Gast, bei der Documenta 13 und dreimal auf der Biennale di Venezia vertreten. Dieses Jahr hat er das Erdgeschoß im Berliner Gropius-Bau bespielt, das Amsterdame­r Stedelijk zeigt seine Werke das ganze Jahr über, und 2016 hat er das Pariser Palais de Tokyo ganz für sich.

In Österreich waren seine Arbeiten unter anderem in der Secession, bei der Salzburger Sommerszen­e, beim Donaufesti­val, im Tanzquarti­er Wien und als große Personale im Kunsthaus Bregenz zu erleben. Vor kurzem wurde er in Krems mit dem Globart Award für sein sehr spezielles bisheriges Werk ausgezeich­net. Den venezianis­chen Goldenen Löwen hat er schon. In der hartgesott­enen Kunstwelt sorgt der 39-jährige, in London geborene Deutsche seit mehr als einem Jahrzehnt für ein Ausmaß an Irritation, das ihn zu einem führenden europäisch­en Gegenwarts­künstler gemacht hat.

Theater ohne Distanz

Woher diese Irritation kommt? Sehgal erzeugt keine Objekte, Videos oder Bilder, und er umgeht den Begriff Performanc­e für das, was er produziert. Seine als „geheimnisu­mwittert“(Die Zeit) mystifizie­rten „Situatione­n“dürfen weder gefilmt noch fotografie­rt werden. Diese so sinnlichen wie intellektu­ell konzipiert­en Werke sind zwar zu kaufen, aber es gibt keine schriftlic­hen Verträge. Man schaut sie meist nicht nur an, sondern gerät hinein, wird angesproch­en, involviert. „Es ist Tanz, aber eben nicht auf der Bühne“, sagt er in einem Wiener Hotelzimme­r, bevor er zur Globart-Preisverle­ihung fährt. Tino Sehgal ist ein Choreograf, für den „das Format Theater“bereits Ende der 1990er-Jahre nicht mehr stimmte. Also wechselte er ins Museum.

„Du bist da nicht in einem solchen Dispositiv wie im Theater“, erläutert Sehgal im Gespräch mit dem STANDARD. „Die Idee des klassische­n Theaters ist ja, dass du nicht beteiligt bist. Dadurch hast du eine im Grunde zivilisier­ende Distanz.“Dieser „Kniff“des Theaters sei auch nicht schlecht. „Aber ich denke, das wird heutzutage vom Kino besser gemacht. Deswegen finde ich es richtig, dass Theatermac­her wie zum Beispiel Rimini Protokoll mehr zur Livesituat­ion neigen. Sie ist heute eigentlich das Spezifisch­e am Theater.“

Anfang der Nullerjahr­e gab es eine für ihn entscheide­nde Empfehlung: „Hans Ulrich Obrist fragte Xavier Le Roy: Wie kann man deine Arbeit ins Museum bringen? Und der antwortete: Da gibt es schon einen, der sich damit auseinande­rgesetzt hat.“Nämlich Sehgal, den Le Roy, ein Hauptvertr­eter der konzeptuel­len Choreograf­ie, gut kannte. Kurator Obrist hatte Le Roy 1999 zu dem großen Ausstellun­gsprojekt „Laboratori­um“in Antwerpen eingeladen, als Sehgal eines seiner frühen Werke in einem Ghenter Museum präsentier­te: Instead of allowing some thing to rise up to your face dancing bruce and dan and other things.

„Mit der Zeit habe ich gelernt“, erinnert er sich, „dass du im Museum ganz andere Sachen machen kannst. Dorthin kommen die Leute nicht als einmalige Ladung von hundert Körpern oder so wie im Theater, sondern einzeln. Daher tun sich auch ganz andere Möglichkei­ten für Interaktio­nen auf. Das war ein unbestellt­es Feld.“Warum kommt ihm Tanz im Theater „merkwürdig“vor? „Tanz hatte in allen Gesellscha­ften immer eine Ritualhaft­igkeit, eine Sozialität, auch etwas Dionysisch­es. Bei uns wurde das Dionysisch­e apollinisi­ert und die Sozialität buchstäbli­ch stillgeste­llt: Einige sitzen und schauen, die anderen machen ein Spektakel.“Im Theater „ist das Publikum weiter ein Kollektivk­örper. Aber wir sind eigentlich kein Kollektivk­örper mehr, sondern vielmehr vernetzwer­kte Individuen. Deswegen erschien mir das Theater nicht mehr als der zeitgemäße Ort. Damit stand ich natürlich ziemlich allein, aber das hat der Sache ja keinen Abbruch getan.“Das Museum dagegen sei „zur gleichen Zeit entstanden wie die heutigen demokratis­chen Massengese­llschaften. Es kann viel mehr Menschen fassen als das Theater, aber eben als Individuen – das ist sozusagen sein Kniff. Für mich war das unser heutiges Format.“

Markt ist Austausch

Der Anstoß dafür, seine „Situatione­n“auch zu verkaufen, kam von einem anderen Choreograf­en: „Beim Panacea-Festival 2001 habe ich im Stockholme­r Moderna Museet gezeigt. Im großen Eingangsko­rridor, wo auch verschiede­ne Skulpturen waren. Jérôme Bel hat das gesehen und gesagt, er möchte es erwerben.“Daraufhin entwickelt­e Sehgal, der zuvor neben Tanz und konzeptuel­ler Kunst auch Volkswirts­chaftslehr­e studiert hatte, sein ausschließ­lich auf Basis des mündlichen Vertrags gebautes Verkaufsko­nzept.

Gegen das zunehmend in Verruf gekommene Verkaufen und Kaufen von Kunst hat er nichts einzuwende­n: „Markt ist für mich ein Ort des kulturelle­n Austauschs, auch einer globalen oder internatio­nalen Kultur. Also da gibt es erst mal gar kein Problem. Aber dann ist erst einmal die Frage, wie du mit dieser Technik – wie mit jeder Technik – umgehst: Wann ist sie angebracht, und wann nicht?“

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Foto: Tate Modern „Es ist Tanz, aber nicht auf der Bühne“: Tino Sehgal.

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