Eine schlechte Familie aus gutem Hause
Deutscher Buchpreis: In „Wie ihr wollt“collagiert Inger-Maria Mahlke ein lebendiges Selbstporträt von Mary Grey und ein abgründiges Bild der Tudors.
Das Leben der Marie Antoinette hat Sofia Coppola 2006 verfilmt. Auf einem Flow aus schimmernden Stoffen und nicht minder leuchtendem Zuckergebäck treibt die französische Königin da leichtlebig ihrem und dem Ende der Monarchie entgegen. Eine It-Girl-Story vor den Umbrüchen der Geschichte.
Kleider, Tratsch und Skandälchen, das findet man auch in Inger-Maria Mahlkes Wie ihr wollt, dem dritten Roman der in Berlin lebenden und bereits für Silberfischchen (2010) und Rechnung offen (2013) vielgelobten Autorin. Doch geht es darin weniger rauschend zu. Denn Mary Grey, Cousine von Elisabeth I., ist kleinwüchsig und buckelig. Nicht bloß in Kreisen, in denen statt Kindern „Wahrscheinlichkeiten“auf den Thron geboren werden, ist sie damit weniger in denn out.
Was Mahlkes, laut Eigendefinition, „Aneignungen eines historischen Stoffes“aber mit Coppola gemein haben: Beide schauen auf die andere, nichtöffentliche Seite geschichtsträchtiger Schlossfassaden und drehen die Leuchtkraft der dahinter stattfindenden Szenen so weit auf, dass intensive Bilder zweier Frauenfiguren und Epochen entstehen.
In HD und Dolby Surround stellen wir uns also den englischen Hof anno 1571 vor. Die Tudors sind an der Macht und mit ihnen der rote Schopf. Wer kann, der färbt. Mary Grey ist eine Tudor, doch in dieser Hofgesellschaft, in der „sich alle zusammendrängten und in die gleiche Richtung sahen und über das Gleiche lachten und jede Bewegung vorgemacht bekamen und sie abgucken konnten und heimlich übten, bis sie diese beherrschten, und jeder wusste, was erwartet wurde“, auch eine Provokateurin.
Etwa hat sie in einem Akt von Liebe und Verzweiflung heimlich den alten Pförtner geheiratet: Wer hätte sie, die die einen für lediglich koboldhaft befinden, andere aber für besessen halten, auch sonst genommen? Statt hofiert zu werden, steht die 26-Jährige dafür nun schon das sechste Jahr unter Hausarrest. Wenn Ellen, ihre verhasste Zofe und einzige annähernd Vertraute, von „draußen“kommt, saugt sie aus deren Kleidung den Duft der Freiheit ein.
Neben den „Küchenneuigkeiten“und dem verregneten Blick aus dem Fenster sind die Memoiren, die Mary schreibt, die einzige ihr mögliche Beschäftigung: ein Journal über die alltäglichen, privaten Begebenheiten und ein retrospektiver Bericht der historischen Ereignisse. Aus diesen beiden Notaten, das eine persönlich in IchForm und das andere sachlich von außen beobachtend, setzt sich Mahlkes Buch zusammen. Vom Schreiben herrührende Schmerzen im Handgelenk oder der Umstand, dass Papier und Kerzen knapp werden, sind da gleich wichtig wie das blaublütige Ringen um Macht und Machterhalt.
Das wundert nicht, denn worum es Mary geht, ist die eigene Geschichte. Jene ihrer Kontrahentin, der „nicht ganz so lieben Cousine“Elisabeth, der sie trotz aller Widrigkeiten auf den Thron hätte folgen können, wäre sie nicht 1578 lange vor dieser gestorben, wurde u. a. von Hollywood vielfach auserzählt – aber wer sonst, wenn nicht sie selbst sollte dereinst über sie berichten?
Jedenfalls hat man an dem, was man geworden ist, nicht nur selbst Schuld. Schonungslos ist also Ma- rys Sektion ihrer illustren Familie. Mit schelmischer Freude werden da die Defizite körperlicher (rotzende Nase, tränende Augen) und moralischer Art ausgebreitet; lapidar und respektlos im Tonfall delektiert sich Mahlke an diesem Häufchen unfreiwillig komischer Gestalten, dass es eine Freude ist. Den Vater etwa heißt sie „nicht nur so dumm, dass er als ungefährlich galt, sondern so dumm, dass er es dennoch schaffte, seinen Kopf zu verlieren“. Figurenpsychologie entsteht so beiläufig und indirekt.
Von Namen und Zeitsprüngen nur so wimmelnd, mag die Gesamtanlage des Textes zuweilen unübersichtlich sein, aber die einzelnen Sequenzen funkeln wie Kronjuwelen. Detailreich und (dem Erinnern geschuldet) kursorisch zugleich ist Wie ihr wollt sprachlich schön und im Wechsel der Erzählsituationen lebendig.
„Was nützt so ein Bericht? Falls ihn jemand liest, was dann?“, fragt Mary gegen Ende. Dem erprobten Prinzip folgend ist es die Außenseiterin, die hier zum Kritiker und Korrektiv wird. Dass Mary dabei aber selbst nicht ganz bruchlos bleibt, das eigene Glück ihr größter Antrieb ist und ihr im Arrest vor allem „das Gefühl, dass uns alles zusteht“, abgeht, macht sie zu einer auch heutigen Figur. Hinter jedem historisierenden Roman eine Bedeutung seiner Geschichte für die Gegenwart zu betonen, wie es die Verleger für notwendig erachten, muss aber nicht sein.
Von Ulrich Peltzers neuem Roman enttäuscht zu sein wäre eine Dummheit. Nicht nur weil man von ihm viel lernen kann über die mentale Verfassung einer globalisierten Gegenwart zwischen Finanzkapital und Sehnsucht nach Herkunft; nicht nur weil man die Geschichte Nachkriegsdeutschlands mit ihren sinnlichen Einschlägen in individuelle Lebensgeschichten lesen kann.
Man kann von Peltzer deshalb nicht enttäuscht sein, weil er seine eigene Variante eines dezidiert modernen, natürlich längst schon kanonisierten Schreibens in Bewusstseinsströmen seit genau zwanzig Jahren, seit seinem Roman Stefan Martínez, auf hohem Niveau zur persönlichen Wiedererkennbarkeit entwickelt hat.
You get what you know. In verbesserter Ausführung. Man kann es kennen wie das Blau von Yves Klein und die Wischtechnik von Gerhard Richter. Man mag es, oder man mag es nicht, aber es ist auf eine erkennbar besondere und elaborierte Weise in der Welt. Und dann noch etwas, das Wichtigste vielleicht: In Peltzers fünftem Roman hat diese asynchrone assoziative Technik solch grandiose Kapitel gedanklicher Raserei und emotionaler Übersprunghandlungen hervorgebracht, dass man, selbst wenn einem das Ganze zu umständlich, verzweigt und verrätselt vorkommen sollte, seine literarische Freude an den einzelnen Sequenzen haben muss.
Theorie und Revolte
Peltzer ist neben, sagen wir: Goetz, Rothmann, Hettche und Schulze einer der wichtigsten deutschen Erzähler der mittleren Generation. Mitte der Fünfziger geboren, knapp zu spät für die euphorisierte Praxis der Revolte, gerade richtig für den tristen Ausklang des K-Gruppen-Desasters und die Euphorie der Theorie in der darauf folgenden Dekade, die uns gerade Philipp Felsch in seinem Langen Sommer der Theorie vor Augen geführt hat. In jeden seiner Romane hat Peltzer trotzdem ein praktisches, also die Theorie in der Praxis aufhebendes politisches Kernstück, eine Art Ursprungshandlung eingebaut.
Sie hat meist in den Siebzigeroder Achtzigerjahren ihren Ort und ist von Gewalt geprägt, von kollektiver Gewalt auf der Straße: so der Zusammenstoß von Demonstranten und Guardia Civil in Barcelona in Alle oder keiner, den Terror der italienischen Brigate Rosse und deren späte Verfolgung durch den Staat in Teil der Lösung, und selbst in der Erzählung, die anscheinend darauf nicht angewiesen sein wollte, Bryant Park von 2002 nämlich, brechen die New Yorker Twin Towers brutal herein und heben die literarische Form auf.
In Das bessere Leben ist es zunächst der 4. Mai 1970, als die amerikanische Nationalgarde auf Studenten schießt, die gegen den Einmarsch der USA in Kambodscha demonstrieren. Die damals neunzehnjährige Allison wird getötet und sucht den schlaflosen global agierenden Finanz- und Versicherungsdienstleister Sylvester Lee Fleming vierundvierzig Jahre später in seinem Gewälze in einem Hotelbett in São Paulo heim.
Dreißig Seiten Albtraumgewitter in der Luxussuite „Renascimento“, im Kopf des global-ökonomischen Alphatiers, das ist ein spektakulärer Romanauftakt. Von hier in die Niederungen des intriganten Businesslebens zu finden, schafft Peltzer mit den hochaufgeladenen Bewusstseinsfrequenzen seines gesamten Personals.
Es gibt nämlich keine milderen Umstände, schon gar keine Ruhe in diesem Universum der maximalen Anspannung, der permanenten Überanstrengung: einerseits für die Sache, um die es praktisch geht, Handelsgeschäfte zum Beispiel; andererseits für die Beantwortung der Frage, die alle geschäftliche Rationalität begleitet: Was tue ich hier, wer bin ich, war ich, wer zwingt mich, welcher Chronologie, welcher Logik, welchen undurchschaubar Zwecken, welcher egozentrischen Einbildung bin ich unterworfen?
Es gibt keine Ruhezonen in der instabilen Welt der globalen Akteure und der Peltzer’schen Psychen, selbst die buddhistisch meditierende Exfrau Jochen Brockmanns, des eigentlichen Helden des Romans, tobt in ihrer Sinnsuche wie wild herum, nicht anders als die vernünftigen Großdealer, die paradoxe Techniken entwickeln, um auf den Sinn der Geschichte und der eigenen Entwicklung verzichten zu können.
Jochen Brockmann, Sales-Manager einer weltmarktbeherrschenden Turiner Firma für Beschichtungsmaschinen, begegnet uns zu Beginn des Romans in Lugano, wo er eine große Summe Schwarzgeld von einem Konto abhebt. Ein äußerst privatistischer Akt, denn Geld zu haben, erst recht in der Hand zu halten ist in der semiöffentlichen Welt des Romans eher unschön.
Geld spielt vor allem die Rolle der Antriebskraft und des Ermöglichers. Der bewegte Beweger. Es wirkt unentwegt, indem es zu Flügen, Meetings, Dinners und Whis-