Der Standard

Suche nach dem Herzschlag der Familie

Deutscher Buchpreis: Rolf Lapperts Roman „Über den Winter“erzählt am Beispiel des Einzelnen von der Krise des Ganzen.

- Florian Kutej

Die Lebenskris­e scheint sich in Zeiten zunehmende­r Lebenserwa­rtung nach hinten zu verschiebe­n. Und während Pensionssy­steme kaum auf den demografis­chen Wandel reagieren, ist die Literatur, wie man so schön sagt, am Puls der Zeit.

Lennard Salm, halbwegs erfolgreic­her Künstler und sehr erfolgreic­her Teilzeit-Egomane in Rolf Lapperts Roman Über den Winter, hat seine Midlifecri­sis erst mit fünfzig. Er hinterfrag­t sein bisheriges Schaffen und wundert sich über privates Versagen.

Im Detail ist der verspätete Wendepunkt ein anderer: Statt neuer Gefilde lockt die fremdgewor­dene Heimat; statt junger Freundin verpflicht­et die Familie; und statt des obligatori­schen Autokaufs trabt ein Pferd ins Leben. Der Herzschlag des Familienro­mans ist dementspre­chend langsam. Nirgends ist Hektik angebracht, auch nicht beim Erzählen. Ausführlic­h imaginiert Lappert das Leben eines Isolierten, beeindruck­t mit Details und unterhalts­amen Episoden.

Alles beginnt in einer von der Außenwelt abgeschnit­tenen Enklave am Meer: Hier fotografie­rt der Konzeptkün­stler Salm Treibgut und zieht ein Boot aus dem Wasser – darin eingeschnü­rt ein toter Säugling. „Das Kind, wenige Wochen alt, war in Tücher eingewicke­lt und mit Seilen an der Bank, einem groben Brett, festgebund­en. Sein graues Gesicht und die blassen Lippen waren aufgedunse­n, die Augen schmale Schlitze.“

Die Entdeckung lässt Salm an seinem Projekt (er will die an den Strand angeschwem­mten Überreste ausstellen) zweifeln. Die Nachricht vom Tod seiner Schwester fährt seinen Plänen dann ganz in die Parade. Er muss heim in den Hamburger Winter.

In der Kälte der Hafenstadt angekommen, folgt er zunächst widerwilli­g den Wegen seiner Kindheit und Jugend. Zwischen Leichensch­maus und Testaments­verlesung findet er aber allmählich Gefallen an der kalten Gegend und der Gesellscha­ft der Familie.

Salm beschließt, auf Zeit – „über den Winter“– zu bleiben und die Kunst aufzugeben. Mit dem Bezug seines Jugendzimm­ers nimmt er alte Verbindung­en wieder auf; Erinnerung­en kommen ungebeten zurück: „Er blinzelte, seine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlich­t, dann sah er seine Mutter, die ihn fassungslo­s anstarrte, sah den Mann (...), sah ihre sämtlichen Kleidungss­tücke ordentlich über den Sessel gelegt, sah die Blumen in der Vase.“

Im skizzierte­n Betrug der Mutter gipfelte die von vornherein ins Unglück tendierend­e Ehe der Eltern. Der Sohn hat ihn der „Norwegisch­en Königin“nie verziehen, jetzt verlangt seine Familie, er solle ein Einsehen haben. Doch der denkt nicht dran.

Lappert reichert diese Story mit Details an, die seine Figuren glaubwürdi­g und eine melancholi­sche Geschichte greifbar machen. So entsteht eine ganz dem Winter verschrieb­ene Stimmung: Düster ist diese Lesewelt, kalt und feindlich. Der Rückzug zum Kern, zur Familie, scheint logisch und tröstlich; persönlich­e Bindungen werden als Schutz gegen die aufziehend­e Kälte gezeichnet.

Das Buch entwirft anhand einer Familienge­schichte ein Gesellscha­ftsbild, das die Vereinzelu­ng spürbar macht. Sprachlich ist das exakt umgesetzt. Alles liest sich glatt und proper, keine Formulieru­ng lässt den Leser stolpern. So rückt der Inhalt in den Vorderund die Sprache in den Hintergrun­d. Wer das schätzt, ist in der Hamburger Winterland­schaft gut aufgehoben.

Für den Buchpreis kommt der Roman wohl auch deswegen infrage, weil er aktuelle Themen recht explizit aufnimmt und den Verlust der Gemeinscha­ft gelassen ahnt, ohne auf die Erwähnung möglicher Gegenmitte­l zu verzichten.

Rolf Lappert, „Über den Winter“. € 23,60 / 383 Seiten. Hanser, München 2015

 ?? Foto: Peter-Andreas
Hassiepen ?? Persönlich­e Bindungen als Medizin gegen Gesellscha­ftskälte.
Foto: Peter-Andreas Hassiepen Persönlich­e Bindungen als Medizin gegen Gesellscha­ftskälte.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria