Wegweiser durch nicht gelernte Lektionen
In seinem neuen Buch „Black Earth“versucht der US-Historiker Timothy Snyder den Holocaust auf eine ganz neue Weise zu erklären – und zieht Parallelen in die Gegenwart, zu Putin und dem Klimawandel.
Ein Mensch kann nur unter menschlichen Bedingungen menschlich sein.“Zweimal zitiert Timothy Snyder in seinem neuen Buch einen polnisch-jüdischen Widerstandskämpfer, der sowjetische Straflager und den Zweiten Weltkrieg überlebte. Staaten seien dazu da, setzt Snyder fort, Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ihre Bürger nicht das eigene Überleben als einziges Ziel vor Augen haben müssen.
ist die umfassend angelegte und erschütternde Darstellung dessen, was passiert, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind. Der Historiker an der Yale University hat nicht weniger als den Versuch unternommen, den europäischen Weg in die Katastrophe der Dreißigerund Vierzigerjahre, insbesondere den Holocaust, auf eine neue Weise zu erklären.
Verkürzt gesagt, macht er das Zusammenfallen von Rassenwahn und der Zerstörung von Staatsgefügen sowie die Gleichsetzung von Natur und Gesellschaft, von Politik und Wissenschaft dafür verantwortlich, dass Massenmorde möglich und akzeptabel wurden. Gegenüber den bisherigen Erklärungsversuchen ist das eine Akzentverschiebung von nicht nur akademischer Bedeutung. Es fügt die Geschehnisse in ein historisches Kontinuum, das vergleichbare Entwicklungen heute möglich erscheinen lässt – daher der Untertitel: Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann.
In seinem neuen Buch erweitert Snyder seine Analyse aus Bloodlands – die osteuropäische Region in den Dreißigern und Vierzigern als „killing fields“– zeitlich nach hinten, zu den Anfängen Hitlers und zu einem umfassenden Blick auf den mehr oder weniger mörderischen Rest von Europa. Das Ergebnis ist – so problematisch das Wort in diesem Zusammenhang klingen mag – spannend geschrieben, so, dass man weiterlesen möchte, auch wenn man das genaue Gegenteil von leichter Lektüre vor sich hat.
Hitler, so hebt an, war ein dem Rassenwahn verfallener „ökologischer Anarchist“. Er glaubte nur an ein Gesetz, das des stärkeren Volkes. Es hat das Recht, alles zu vernichten, was seinem „Lebensraum“im Weg steht. Die überlegene Rasse der Deutschen sah er in diesem Raum beengt, es war von Importen abhängig, der friedliche Zugang zu Lebensmitteln, vor allem aus der „Kornkammer“Ukraine, war ihm zu wenig, und schuld an allem waren die Juden. So weit, so jedem bekannt, der gelesen hat, also auch jedem Historiker.
Snyder wirft einen Blick auf jene Länder, deren fruchtbare „schwarze Erde“schon vor der systematischen Tötungsmaschinerie blutgetränkt war. Kompakt schildert der Autor die Entwicklungen in den Ländern zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion, das sukzessive Zerfallen von staatlicher Ordnung in Österreich, der Tschechoslowakei, auf der anderen Seite in den „sozialistischen Republiken“, die der Willkür Stalins ausgeliefert waren, von Deportationen aus den baltischen Staaten bis zur genozidalen Hungersnot in der Ukraine; dazwischen Polen mit seinem Lavieren zwischen den Mächten.
Mit dem völligen Fehlen von Rechtsstaatlichkeit ab 1938, spätestens 1941, hatte die Willkür Oberhand, in erster Linie die der deutschen militärischen und SSVerbände. Zudem nahm die Zivilbevölkerung Rache an allen, die ihnen ausgeliefert waren und von denen sie, aus Tradition oder durch Propaganda eingetrichtert, das Schlimmste annahmen, also den „bolschewistischen“Juden, der jeweils schwächeren Ethnie oder einfach dem Nachbarn, den man denunzieren konnte.
Snyder vergleicht die Anarchie der Bloodlands mit anderen Ländern, die mehr oder weniger direkt unter dem Einfluss Nazideutschlands standen. Er findet eine Korrelation zwischen dem Grad an „Staatlichkeit“(wo es Staatsangehörigkeit, Bürokratie und Außenpolitik gab) und dem Schutz der jüdischen Bevölkerung, unabhängig davon, ob das Land mit den Nazis verbündet oder von ihnen besetzt war. Deshalb, so der Autor, ging es Juden in Italien vergleichsweise besser als in Holland; im kaputten Estland überlebte ein Prozent, im intakten Dänemark 99 Prozent.
Im letzten Teil des Buches macht Snyder einen unvermittelten Sprung in die Gegenwart. Auch heute, sagt er, kommen enorme Verteilungskämpfe auf uns zu, um Wasser, um Energie, um Überleben am Rande steigender Meeresspiegel. Wie in NS-Zeiten möchten manche die Wissenschaft der Politik gefügig machen – Snyder denkt insbesondere an die Bestrebungen, die Klimaforschung zu ignorieren und weiter Raubbau zu betreiben, ohne Rücksicht auf „Nachbarn“. Es muss nur ein Feindbild identifiziert und die Massen mobilisiert werden, dann wäre eine explosive Situation gegeben: „Wir leben immer noch auf demselben Planeten wie Hitler, und wir haben zum Teil dieselben Sorgen und uns weniger verändert, als wir glauben.“
Wie zu erwarten war, löste Black Earth schon vor Erscheinen – im Herbst in insgesamt 19 Sprachen – Kontroversen aus. Zustimmung kam von Ian Kershaw, bekannt für seine Studien zu Hitler, und von Deborah Lipstadt, die über Holocaust-Leugnung forscht. Kritisch äußerte sich der Princeton-Historiker David Bell. Er bemängelte vor allem Snyders Fokus auf (ex)kommunistische Kollaborateure und seine „freundliche“Beurteilung der polnischen Seite in den Auseinandersetzungen. Diesem Argument zumindest widersprechen die Fallstudien im Buch, die ein weites, alle Ethnien und Konfessionen umspannendes Spektrum an Hilfe wie auch an Verrat zeigen. Mit liegt ein bedeutendes, unbedingt lesenswertes Buch vor. Es hilft nicht zuletzt auch dabei, wieder über Europa drohende Stürme und kriegslüsterne Projekte mit noch kritischeren Augen zu sehen – ein Wegweiser durch nicht gelernte Lektionen.
Langversion: www.derstandard/Kultur
Timothy Snyder, „Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann“. € 31,10 / 462 Seiten. H. C. Beck 2015. Am 21. Oktober stellt der Autor in Zusammenarbeit mit dem Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) das Buch im WienMuseum vor.