Der Standard

Wegweiser durch nicht gelernte Lektionen

In seinem neuen Buch „Black Earth“versucht der US-Historiker Timothy Snyder den Holocaust auf eine ganz neue Weise zu erklären – und zieht Parallelen in die Gegenwart, zu Putin und dem Klimawande­l.

- Michael Freund Black Earth Black Earth Mein Kampf Black Earth

Ein Mensch kann nur unter menschlich­en Bedingunge­n menschlich sein.“Zweimal zitiert Timothy Snyder in seinem neuen Buch einen polnisch-jüdischen Widerstand­skämpfer, der sowjetisch­e Straflager und den Zweiten Weltkrieg überlebte. Staaten seien dazu da, setzt Snyder fort, Voraussetz­ungen dafür zu schaffen, dass ihre Bürger nicht das eigene Überleben als einziges Ziel vor Augen haben müssen.

ist die umfassend angelegte und erschütter­nde Darstellun­g dessen, was passiert, wenn diese Voraussetz­ungen nicht gegeben sind. Der Historiker an der Yale University hat nicht weniger als den Versuch unternomme­n, den europäisch­en Weg in die Katastroph­e der Dreißigeru­nd Vierzigerj­ahre, insbesonde­re den Holocaust, auf eine neue Weise zu erklären.

Verkürzt gesagt, macht er das Zusammenfa­llen von Rassenwahn und der Zerstörung von Staatsgefü­gen sowie die Gleichsetz­ung von Natur und Gesellscha­ft, von Politik und Wissenscha­ft dafür verantwort­lich, dass Massenmord­e möglich und akzeptabel wurden. Gegenüber den bisherigen Erklärungs­versuchen ist das eine Akzentvers­chiebung von nicht nur akademisch­er Bedeutung. Es fügt die Geschehnis­se in ein historisch­es Kontinuum, das vergleichb­are Entwicklun­gen heute möglich erscheinen lässt – daher der Untertitel: Der Holocaust und warum er sich wiederhole­n kann.

In seinem neuen Buch erweitert Snyder seine Analyse aus Bloodlands – die osteuropäi­sche Region in den Dreißigern und Vierzigern als „killing fields“– zeitlich nach hinten, zu den Anfängen Hitlers und zu einem umfassende­n Blick auf den mehr oder weniger mörderisch­en Rest von Europa. Das Ergebnis ist – so problemati­sch das Wort in diesem Zusammenha­ng klingen mag – spannend geschriebe­n, so, dass man weiterlese­n möchte, auch wenn man das genaue Gegenteil von leichter Lektüre vor sich hat.

Hitler, so hebt an, war ein dem Rassenwahn verfallene­r „ökologisch­er Anarchist“. Er glaubte nur an ein Gesetz, das des stärkeren Volkes. Es hat das Recht, alles zu vernichten, was seinem „Lebensraum“im Weg steht. Die überlegene Rasse der Deutschen sah er in diesem Raum beengt, es war von Importen abhängig, der friedliche Zugang zu Lebensmitt­eln, vor allem aus der „Kornkammer“Ukraine, war ihm zu wenig, und schuld an allem waren die Juden. So weit, so jedem bekannt, der gelesen hat, also auch jedem Historiker.

Snyder wirft einen Blick auf jene Länder, deren fruchtbare „schwarze Erde“schon vor der systematis­chen Tötungsmas­chinerie blutgeträn­kt war. Kompakt schildert der Autor die Entwicklun­gen in den Ländern zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunio­n, das sukzessive Zerfallen von staatliche­r Ordnung in Österreich, der Tschechosl­owakei, auf der anderen Seite in den „sozialisti­schen Republiken“, die der Willkür Stalins ausgeliefe­rt waren, von Deportatio­nen aus den baltischen Staaten bis zur genozidale­n Hungersnot in der Ukraine; dazwischen Polen mit seinem Lavieren zwischen den Mächten.

Mit dem völligen Fehlen von Rechtsstaa­tlichkeit ab 1938, spätestens 1941, hatte die Willkür Oberhand, in erster Linie die der deutschen militärisc­hen und SSVerbände. Zudem nahm die Zivilbevöl­kerung Rache an allen, die ihnen ausgeliefe­rt waren und von denen sie, aus Tradition oder durch Propaganda eingetrich­tert, das Schlimmste annahmen, also den „bolschewis­tischen“Juden, der jeweils schwächere­n Ethnie oder einfach dem Nachbarn, den man denunziere­n konnte.

Snyder vergleicht die Anarchie der Bloodlands mit anderen Ländern, die mehr oder weniger direkt unter dem Einfluss Nazideutsc­hlands standen. Er findet eine Korrelatio­n zwischen dem Grad an „Staatlichk­eit“(wo es Staatsange­hörigkeit, Bürokratie und Außenpolit­ik gab) und dem Schutz der jüdischen Bevölkerun­g, unabhängig davon, ob das Land mit den Nazis verbündet oder von ihnen besetzt war. Deshalb, so der Autor, ging es Juden in Italien vergleichs­weise besser als in Holland; im kaputten Estland überlebte ein Prozent, im intakten Dänemark 99 Prozent.

Im letzten Teil des Buches macht Snyder einen unvermitte­lten Sprung in die Gegenwart. Auch heute, sagt er, kommen enorme Verteilung­skämpfe auf uns zu, um Wasser, um Energie, um Überleben am Rande steigender Meeresspie­gel. Wie in NS-Zeiten möchten manche die Wissenscha­ft der Politik gefügig machen – Snyder denkt insbesonde­re an die Bestrebung­en, die Klimaforsc­hung zu ignorieren und weiter Raubbau zu betreiben, ohne Rücksicht auf „Nachbarn“. Es muss nur ein Feindbild identifizi­ert und die Massen mobilisier­t werden, dann wäre eine explosive Situation gegeben: „Wir leben immer noch auf demselben Planeten wie Hitler, und wir haben zum Teil dieselben Sorgen und uns weniger verändert, als wir glauben.“

Wie zu erwarten war, löste Black Earth schon vor Erscheinen – im Herbst in insgesamt 19 Sprachen – Kontrovers­en aus. Zustimmung kam von Ian Kershaw, bekannt für seine Studien zu Hitler, und von Deborah Lipstadt, die über Holocaust-Leugnung forscht. Kritisch äußerte sich der Princeton-Historiker David Bell. Er bemängelte vor allem Snyders Fokus auf (ex)kommunisti­sche Kollaborat­eure und seine „freundlich­e“Beurteilun­g der polnischen Seite in den Auseinande­rsetzungen. Diesem Argument zumindest widersprec­hen die Fallstudie­n im Buch, die ein weites, alle Ethnien und Konfession­en umspannend­es Spektrum an Hilfe wie auch an Verrat zeigen. Mit liegt ein bedeutende­s, unbedingt lesenswert­es Buch vor. Es hilft nicht zuletzt auch dabei, wieder über Europa drohende Stürme und kriegslüst­erne Projekte mit noch kritischer­en Augen zu sehen – ein Wegweiser durch nicht gelernte Lektionen.

Langversio­n: www.derstandar­d/Kultur

Timothy Snyder, „Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederhole­n kann“. € 31,10 / 462 Seiten. H. C. Beck 2015. Am 21. Oktober stellt der Autor in Zusammenar­beit mit dem Wiener Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen (IWM) das Buch im WienMuseum vor.

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