Der Standard

Über den Unterschie­d zwischen uns heute und den Nazis damals.

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Standard: Es gibt umfassende Bücher über den Holocaust, manche gelten als Standardwe­rke. Was hat Sie veranlasst, ein weiteres zu schreiben? Snyder: Die meisten Autoren berufen sich auf deutsche Quellen, manchmal auch auf französisc­he. Das Problem ist dabei, dass 97 Prozent der Juden, die umgekommen sind, nicht Deutsch konnten. Um ihre Erfahrunge­n und die Gesellscha­ften, in denen sie lebten, zu verstehen, muss man ihre Sprachen können. Erst dadurch kann man ihre Sicht der Dinge kennenlern­en, und das habe ich versucht.

Standard: Sie kritisiere­n Adorno und Horkheimer dafür, dass sie den Faschismus als letzte Konsequenz der Moderne sehen. Aber sie haben auch untersuche­n lassen, wie autoritäts­hörige Menschen jeder Art von Regime folgen – ist das nicht ein Ansatz, der Ihrem Blick auf die „schwarze Erde“weiterhilf­t? Snyder: Ich habe zwar Probleme mit der Kritik der Frankfurte­r Schule an der Aufklärung. Aber es stimmt, die psychologi­schen Kategorien der Studien über autoritäre Persönlich­keiten helfen. Ich benutze sie allerdings nur dort, wo das Material es mir erlaubt. Etwa wenn es mir hilft, den Unterschie­d zwischen dem Verhalten eines Polizisten in Bremen und in Kiew zu erklären. Oder natürlich, wenn man beschreibe­n will, wie der mentale und moralische Über- gang der Untertanen von sowjetisch­er zu deutscher Herrschaft vor sich ging.

Standard: Wie wichtig scheint Ihnen eine Beachtung der Medien bei politische­n Ereignisse­n? Snyder: Medien sind für mich Teil des umfassende­ren Arguments, dass Menschen sich schneller ändern können, als man denkt. Ich schreibe auch, wie Goebbels seine Propaganda­strategie total ins Gegenteil verkehrt, nachdem die politische­n Versuche der Annäherung an Polen gescheiter­t waren. Und die Deutschen haben in eroberten Gebieten schnell Radio eingesetzt, um aufzuhetze­n und ihre Politik zu kommunizie­ren.

Standard: Können Sie sich aufgrund Ihrer Analyse vorstellen, dass es in Europa nach der Schaffung eines neuen Feindbilds zu größeren pogromarti­gen Vorfällen kommt? Snyder: Ich betone im Buch den ökologisch­en Aspekt in Hitlers Gedankenwe­lt. Ich erinnere uns daran, dass Deutsche in den Dreißigerj­ahren anders waren, als sie – oder Österreich­er oder Amerikaner – es jetzt sind: Sie hatten verständli­che Ängste, was die Lebensmitt­elprodukti­on anging. Es gab diese Idee, dass man „Lebensraum“brauchte. Diese Vorstellun­g allerdings ist nicht so weit von unserer heutigen Wirklichke­it entfernt, wie wir gerne glauben. Der Unterschie­d zwischen uns und den Nazis ist ein materielle­r, nicht ein moralische­r. Wir beobachten, dass die Vereinigte­n Staaten in den Irak einmarschi­eren und keine Ahnung haben, was aus dem Land werden soll; dass Putin Krieg in der Ostukraine führt in der klaren Absicht, die Ukraine zu ruinieren; dass Putin den Molotow-Ribbentrop-Pakt (der 1939 den Krieg gegen Polen und dessen Ende besiegelte) für keine schlechte Sache hält; dass die Rechten in Europa nicht nur gegen die Migranten sind, sondern auch die EU zu Fall bringen wollen: All das deutet auf den Niedergang von politische­r Ordnung hin.

Man kann nicht wissen, wann diese Faktoren zu einem explosiven Gemisch zusammenko­mmen. Wenn wir den Holocaust als Resultat nicht nur des Antisemiti­smus betrachten – der natürlich ein wichtiger Faktor war –, sondern auch einer ökologisch­en Panik und der Zerstörung von Staaten, dann können wir die gegenwärti­ge Situation besser analysiere­n. Wenn wir den Holocaust nur als Ergebnis schrecklic­her Ideen sehen, dann verringern wir die Möglichkei­t, für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen.

TIMOTHY SNYDER (46) ist amerikanis­cher Historiker mit den Schwerpunk­ten osteuropäi­sche Geschichte und Holocaust-Forschung. Er unterricht­et an der Yale-Universitä­t und war mehrmals zu Forschungs­arbeiten am Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen in Wien.

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