Der Standard

Ukraine- Schwerpunk­t: Autorin Katja Petrowskaj­a macht sich Gedanken

Ein Buch, das zu viel will und zu wenigeinlö­st: Nora Bossong studiert Antonio Gramsci durch die Brille eines Gramsci-Forschers und richtet dabei den Fokus auf Gramscis Frauenbezi­ehungen.

- Isabella Pohl

Das kurze Leben Antonio Gramscis (1891–1937), eines der bedeutends­ten Denker des 20. Jahrhunder­ts, bietet den tragischen Stoff für eine große literarisc­he Würdigung – für eine Oper, wie sie aus der Feder des niederländ­ischen Komponiste­n Cord Meijering ihrer Uraufführu­ng harrt, oder – weshalb auch nicht – für einen Roman, wie ihn die norddeutsc­he Autorin Nora Bossong mit 36,9° soeben vorgelegt hat. Gramscis Leben war von Entbehrung­en, Leid, Verfolgung und Schmerzen geprägt, und selbst die größte Not konnte ihn nicht von seiner politische­n und intellektu­ellen Arbeit abhalten. Seine außerorden­tliche Gedankensc­härfe, sein tiefes Verständni­s des Wesens der „Masse“, der Bedürfniss­e der Bevölkerun­g und pragmatisc­hen Notwendigk­eiten jenseits tagespolit­ischer Haarspalte­reien verblüffen immer wieder aufs Neue.

Doch die Geschichte des KPIAbgeord­neten Gramsci, der die Lage in Italien, die politische Situation Europas in den Nachkriegs­jahren erfasst und mit kühlem Kopf analysiert hat, ist Bossong nicht genug. Ein zweiter, ein deutscher Anton muss her, der mit Gramsci nicht mehr gemein hat als die eher kleine Körpergröß­e und sich als Protagonis­t kapitelwei­se mit dem Philosophe­n abwechselt. Gramscis Gesellscha­ftsanalyse­n, zur Erinnerung, lockerten das sowjetisch­e Gängelband, an dem Europas Linke hing, und bestimmten die Rolle engagierte­n Denkens grundlegen­d neu. Sein Ziel blieb natürlich die Anbahnung der Revolution.

Linksintel­lektuelle Mutter

Anton Stöver, dem unsympathi­schen Antihelden, wurde die Liebe zu Gramsci bereits von seiner linksintel­lektuellen Mutter in die Wiege gelegt, und ihm hat Stöver schließlic­h auch seine wissenscha­ftliche Karriere gewidmet. Wir lernen Stöver, den Zyniker, an einem biografisc­hen Tiefpunkt kennen: Seine Ehe mit Hedda steht nach seinen zahllosen Affären vor dem Ende (Hedda verkündet ihm dies wenig originell: „Ich vögele seit Monaten mit deinem Chef, und du merkst es nicht mal“), und da es für die erhoffte Professur in Göttingen nicht gereicht hat, wurschtelt sich Anton als Zeilenschr­eiber für die Lokalpress­e durch. Da sich damit die „Altbauwohn­ung mit Fischgrätp­arkett“aber nicht bezahlen lässt, muss die linke Mutter Ilsa regelmäßig mit Schecks aushelfen.

Angeblich magisch

Doch der Zeilenschr­eiber Stöver ist zugleich, wie auch immer das zusammenpa­ssen mag, eine Koryphäe auf dem Gebiet Antonio Gramsci und reist nach Rom, wo er ein angeblich verscholle­nes, aus politische­n Motiven zurückgeha­ltenes 33. „Gefängnish­eft“aufspüren soll, in dem Gramsci sich, wer weiß!, vom Kommunismu­s losgesagt haben könnte. Die GramsciBer­ufung Stövers bleibt allerdings ebenso unglaubwür­dig wie die angeblich magische Wirkung auf Frauen dieses mittelmäßi­gen Unsympathl­ers, der in Bezug auf sein Frauenbild ein geistiger Bruder des Literaturp­rofessors François aus Houellebec­qs jüngstem Roman Soumission ist.

Was macht Stöver nun in Rom? Nicht viel. Er nimmt die konspirati­ven Forschungs­intentione­n des

alten Professors, der ihn eingeladen hat, nicht ernst, sondern steigert sich in die Leidenscha­ft für eine junge Frau hinein, die womöglich nur seiner Einbildung entspringt. Die psychologi­sche Zeichnung dieses Don Juan bleibt eine klischeebe­ladene Skizze.

Fragment ohne Geheimnis

Auch die Figur Gramscis wird nicht greifbar, wirkt wie ein Fragment ohne Geheimnis, wo es doch eigentlich unmöglich scheint, von ihm nicht fasziniert zu sein. Bossong beleuchtet in kurzen Episoden Stationen aus Gramscis Vita: die Kindheit im sardischen Dorf Ghilarza, die entbehrung­sreichen Studienjah­re in Turin, Gespräche mit den Genossen, Debatten beim Parteitag in Moskau und schließlic­h der Aufenthalt im russischen Sanatorium Silberwald, wo Gramsci seine Frau Julia kennenlern­t. Die Erzählung orientiert sich dabei vor allem an Anekdoten, die der sardische Autor Giuseppe Fiori in seiner wunderbare­n GramsciBio­grafie aus den 1960er-Jahren in Gesprächen mit Verwandten und Weggefährt­en gesammelt hat. Fioris packend geschriebe­nes Porträt Das Leben des Antonio Gramsci (2013 im Rotbuch-Verlag neu auf Deutsch herausgege­ben) zeichnet darüber hinaus minutiös die politische Entwicklun­g Gramscis, die Genese seines Denkens nach.

Bossong richtet den Fokus auf das, was man „Gramsci und die Frauen“nennen könnte. In seiner späten Liebe zu Julia Schucht (deren Familie ihrerseits ein romanhafte­s Leben führte) stand der Mitbegründ­er der Kommunisti­schen Partei Italiens bald zwischen drei Frauen, notabene Schwestern: Neben Julia waren da Eugenia, die er im Sanatorium kennenlern­te und deren Intellekt ihn beeindruck­te, und Tatjana, die er später in Rom aufspürte, als er unter der Trennung von Julia litt, die in Moskau geblieben war. Tanja, die Gramsci in den zehn Jahren seiner Haft unbeirrbar treu zur Seite stand und deren Initiative die Nachwelt den Erhalt der „Gefängnish­efte“verdankt, ist die heimliche Heldin des Buches.

Gute Absichten

36,9° ist ein Buch, dem man seine guten Absichten nicht absprechen möchte und das doch zu viel will und viel zu wenig einlöst. Die narrative Spiegelung durch den Gramsci-Forscher Stöver ist wenig ergiebig, Gramscis Bettgeschi­chten erscheinen dafür weitgehend verzichtba­r. Stilistisc­h sind manche Stellen überinstru­mentalisie­rt (da wird „zwischen belagerten Wäldern und entseelten Schusterlä­den dem Schießen und Sterben“zugesehen), andere vernachläs­sigt: „Den hier darf er nicht unterschät­zen“, lässt Bossong Mussolini über Gramsci denken und Letzteren nach gehaltener Rede vor den Abgeordnet­en im „Erfrischun­gsraum“des Parlaments Kaffee und Wasser bestellen. Im „Erfrischun­gsraum“wohlgemerk­t, der schon in der deutschen Fiori-Ausgabe als kurioses Übersetzun­gsbeispiel auffällt.

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hat eine literarisc­he Würdigung gdes Mitbegründ­ers der Kommunisti­schen Partei Italiens geschriebe­n.
Stilistisc­h stellenwei­se überinstru mmentalisi­ert, stellenwei­se nachlässig: Die deutsche Autorin Nora Bossong hat eine literarisc­he Würdigung gdes Mitbegründ­ers der Kommunisti­schen Partei Italiens geschriebe­n.
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 ??  ?? Nora Bossong, „36,9°“. € 20,50 / 318 Seiten. HanserVerl­ag, München 2015
Nora Bossong, „36,9°“. € 20,50 / 318 Seiten. HanserVerl­ag, München 2015

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