Der Standard

„Rechnend und berechnend“

In seinem neuen Buch setzt er sich kritisch mit der vermeintli­chen Sonderstel­lung der Schweiz auseinande­r. Der Schweizer Historiker Jakob Tanner über Neutralitä­t, Flüchtling­e – und die Wahlen am Sonntag.

- INTERVIEW: Ruth Renée Reif

Die Geschichte der Schweiz lasse sich nicht als „Selbstersc­haffung des Landes im nationalso­uveränen Alleingang einer Willensnat­ion“begreifen, betont der Schweizer Historiker Jakob Tanner. In seiner soeben erschienen­en Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhunder­t (C. H. Beck, München 2015) spürt er den Spannungen zwischen Demokratie, Kapitalism­us und Nationalmy­thologie nach und hinterfrag­t das Erzählmust­er einer schweizeri­schen Erfolgsges­chichte.

Standard: Die Schweiz ist ein Vorbild an Stabilität und Wohlstand. Warum stellen Sie dieses Bild infrage? Tanner: Die Schweiz war seit Jahrhunder­ten eine Projektion­sfläche. Sie eignet sich nicht nur für Idealisier­ungen, sondern auch für Dämonisier­ungen. Denken Sie nur an das Bild der Schweiz, die mit dem Bankgeheim­nis Reichtum auf Kosten anderer Länder scheffelt. Verklärt wird das Bild der Schweiz heute vor allem von jenen Kreisen, die zeigen möchten, dass man im nationalen Alleingang besser dasteht denn als Mitglied der EU. Damit wird die Schweiz allerdings zum gefährlich­en Vorbild. Ein Europa, das zurückfäll­t auf konkurrier­ende Nationen wäre eine schlimme Sache.

Standard: Dennoch wurde die Neutralitä­t der Schweiz lange als Vorbild gesehen. Tanner: Ein Land, das von den Verheerung­en zweier Weltkriege verschont blieb, war selbstvers­tändlich attraktiv. Aufgrund ihrer wirtschaft­lichen Zusammenar­beit mit den Achsenmäch­ten sah sich die Schweiz nach 1945 zwar heftiger Kritik, vor allem durch die USA, ausgesetzt. Doch sie konnte sich im aufziehend­en Kalten Krieg rasch mit dem westlichen Lager arrangiere­n. Als sich die Sowjetmach­t 1955 aus Österreich zurückzog und das Gebiet neutralisi­ert wurde, war die Schweizer Neutralitä­t bereits wieder das Vorbild für Österreich.

Standard: Immerhin bescherte sie der Schweiz eine lange Friedenspe­riode. Ist das nicht eine Erfolgsges­chichte? Tanner: Man könnte es als Teil einer Erfolgsges­chichte sehen, dass die Schweiz nicht an den Weltkriege­n teilgenomm­en hat. Allerdings ist die Auffassung, ein Land käme nicht in einen Krieg, wenn es sich als neutral bezeichnet, historisch schlecht begründet. Man kann nur neutral bleiben, wenn man nicht angegriffe­n wird. Dass die Schweizer Banken nach Kriegsende nachrichte­nlose Vermögen einbehielt­en und sich das Land mit seiner Flüchtling­spolitik nur oberflächl­ich auseinande­rsetzte, kann nicht Teil einer Erfolgsges­chichte sein. Und dass sich in den 1960er-Jahren alte Frontisten aus den 1930er-Jahren an einer brutal fremdenfei­ndlich argumentie­renden „Nationalen Aktion gegen die Überfremdu­ng von Volk und Heimat“beteiligte­n, lässt sich auch nicht als Kollateral­schaden einer Erfolgsges­chichte abtun.

Standard: Die Schweiz verfolgte im Zweiten Weltkrieg eine restriktiv­e Flüchtling­spolitik. Sie verweisen auf den Bundesrat Eduard von Steiger, der 1942 die Metapher der Schweiz als ein volles Rettungsbo­ot prägte. War das die Angst vor einem deutschen Angriff? Tanner: Schon 1938, nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Österreich, gab es eine Flüchtling­skrise. Die Schweizer Behörden nahmen damals mit der Anregung eines „J“Stempels zur Markierung der Pässe jüdischer Flüchtling­e eine antisemiti­sche Haltung ein. Diese war im Lande selbst verankert. Sie verband sich mit dem Gefühl einer Überfremdu­ngsgefahr, das seit der Zeit um 1900 antrainier­t worden war. Man fürchtete auch eine Arbeitsmar­ktkonkurre­nz. Tatsächlic­h hätte es bei einer Öffnung der Grenzen weder eine Ernährungs­krise gege- ben, noch wäre die Schweiz deswegen von der Wehrmacht angegriffe­n worden.

Standard: Was wusste man in der Schweiz von der Judenverni­chtung? Tanner: Anfangs war das Bewusstsei­n für die Verstricku­ng der Schweiz gering. Das hing damit zusammen, dass die Regierung Informatio­nen zurückhiel­t und in der zensuriert­en Medienöffe­ntlichkeit kein Zusammenha­ng mit der Judenverfo­lgung in Deutschlan­d und der Ankunft von Flüchtling­en an der Grenze gemacht wurde. Über den Fall der Eltern des Historiker­s Saul Friedlände­r, die 1942 am Genfer See zurückgewi­esen und der französisc­hen Polizei übergeben wurden und in Auschwitz, wie man mit großer Sicherheit annehmen muss, ermordet wurden, gab es keine Berichters­tattung. Es machte sich auch Widerstand bemerkbar. Die Bevölkerun­g war hilfsberei­ter als die Behörden.

Standard: Wurde das Verhalten der Schweiz im Hinblick auf die Aufnahme jüdischer Flüchtling­e nach dem Krieg aufgearbei­tet? Tanner: Als 1954 die Flüchtling­spolitik der Kriegszeit skandalisi­ert wurde, beauftragt­e die Regierung den Basler Juristen Carl Ludwig mit einem Bericht, der zeigte, wie abweisend sich die Schweiz verhalten hatte. Der Hauptveran­twortliche Eduard von Steiger durfte allerdings eine Stellungna­hme einfügen, in der er festhielt, die Schweiz habe sich nichts vorzuwerfe­n. Ab den 1960er-Jahren kam es schubweise zu Diskussion­en und kritischen Publikatio­nen. Nach 1996 untersucht­e die internatio­nale Bergier-Kommission, der ich angehörte, verschiede­ne bisher kaum bekannte Aspekte der Flüchtling­spolitik. Das passte nicht allen. Die unter Christoph Blocher erstarkend­e nationalko­nservative SVP opponierte gegen die Forschungs­resultate. Sie stellte ihnen das mythische Geschichts­bild einer heilen Schweiz entgegen.

Standard: Sie zitieren den Volkskundl­er Richard Weiss, die Schweiz zähle nur Geld. Tanner: Das Geld hat bei Weiss eine metaphoris­che Bedeutung. Er nannte die Schweizer rechnend und berechnend. Sie würden zum Mittelmaß neigen, hätten keinen Sinn für Exzesse und Extreme. Man fragt sich, wie ein solches Land es schafft, internatio­nal an die Spitze des Pro-KopfEinkom­mens zu gelangen. Sicher hängt das mit einer klugen Verfassung­sordnung und mit einer hohen Wertschätz­ung der Arbeit zusammen. Von Bedeutung war, dass sich die Schweiz auf das Risiko der internatio­nalen Arbeitstei­lung einließ. Die Kehrseite waren Abhängigke­iten von den Weltmärkte­n. Im Ersten Weltkrieg legte die Schweiz die Grundlage für ein internatio­nales Vermögensv­erwaltungs­zentrum. Als „Lieblingsa­ufbewahrun­gsort der Kapitalist­en aller Welt“bezeichnet­e sie 1917 ein späterer Bundesrat. Daraus erwuchs die Diskussion um das Bankgeheim­nis.

Standard: Ein Thema, das die Schweiz mit Österreich teilt. Tanner: Die Schweiz schuf daraus ein nationales Geschäftsm­odell. Österreich war nach dem Ersten Weltkrieg viel zu zerstört, um diesem Beispiel zu folgen. Damals wandte sich die österreich­ische Regierung an Bern mit der Bitte, Informatio­nen über die auf schweizeri­schen Bankkonten liegenden Kapitalanl­agen aus Österreich zu erhalten. Die Schweiz antwortete, sie sei ein souveräner Staat, und in diesem gelte das Bankgeheim­nis. Es galt bis 2009, als die Schweiz dem Druck von OECD, USA und EU weichen musste.

Standard: In beiden Ländern gibt es eine starke rechtspopu­listische Kraft. Hängt das mit der Kleinheit der Länder und der fragilen eigenen Identität zusammen? Tanner: Ich sehe darin eine gesamteuro­päische Entwicklun­g. Überall befinden sich rechtspopu­listische Bewegungen im Aufwind, und nationalis­tische Reflexe verstärken sich. Dies hängt damit zusammen, dass die EU, die in der Nachkriegs­zeit als Friedens- und Freiheitsp­rojekt startete, mittlerwei­le in eine Krise geraten ist. Auf die Eurokrise und die Migrations­bewegungen Richtung Europa reagieren viele mit nationalen Rezepten. Besonders prekär ist der Sachverhal­t, dass auch aufseiten der Linken wieder nationalis­tische Problemlös­ungsansätz­e in Betracht gezogen werden.

Standard: Auf welchem Weg sehen Sie die Schweiz in Zukunft? Tanner: Wer sich eine schummrige Vergangenh­eit zurechtleg­t, sieht auch schlecht in die Zukunft. Es gibt in der Schweiz nationalko­nservative und rechtsextr­eme Richtungen, die das Land aus einer mythischen Vergangenh­eit heraus als Abwehrkamp­f gegen Fremdes erklären. Alternativ­e Zukunftsvo­rstellunge­n sehen die Schweiz in ihrer Geschichte als stark abhängiges Staatsgebi­lde, das deshalb zu einem „Experiment­ierfeld der Moderne“werden konnte, weil es immer wieder neue und spannende Ideen hervorgebr­acht hat. Ich stelle mir eine Zukunft vor, die die besten Seiten der Schweiz fortschrei­bt als ein Land, das sensibel auf Weltproble­me reagiert.

Standard: Was werden die Wahlen am 18. Oktober dem Land bringen? Tanner: Wahlen sind ein Test, wie Bürger Weltproble­me und europäisch­e Herausfor- derungen wahrnehmen und mit ihnen umgehen. Heute stellt sich die Frage, ob es von rechts her gelingt, imaginäre Ängste zu aktivieren, oder ob das Stimmverha­lten eher durch einen realistisc­hen Blick auf tatsächlic­h schwierig zu lösende Probleme bestimmt wird. Sehr wichtig wird sein, wer besser zu mobilisier­en vermag. Seit 1979 lag die Wahlbeteil­igung regelmäßig unter 50 Prozent. Wer Wähler an die Urne bringt, wird gewinnen.

JAKOB TANNER, 1950 in Root bei Luzern geboren, studierte Geschichte, Wirtschaft­sgeschicht­e und Deutsch an der Universitä­t Zürich und absolviert­e mehrere Auslandsau­fenthalte. 1997 bis zu seiner Emeritieru­ng 2015 wirkte er als Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der neueren und der neuesten Zeit an der Universitä­t Zürich. Er gehörte der Bergier-Kommission an, ist Mitherausg­eber zahlreiche­r historisch­er Zeitschrif­ten und Präsident des Schweizeri­schen Sozialarch­ivs in Zürich.

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Foto: Jost Fetzer Vor allem Nationalis­ten verklären die Schweiz, kritisiert Historiker Tanner.

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