Der Standard

Geküsst von der Spinnenfra­u Sie sind nicht mehr richtig links, wollen aber auch nicht ganz rechts sein: Von Michel Onfray über Alain Finkielkra­ut bis zu Michel Houellebec­q geraten immer mehr französisc­he Intellektu­elle ins Fahrwasser des Front National.

- Le Figaro, Stefan Brändle Linken, Anm.) Das periphere Frankreich.

Michel Onfray ist der Inbegriff des französisc­hen Denkers: ein brillanter Theoretike­r und dazu ein libertärer Lebemann, dessen auf Deutsch übersetzte Werke – ein Bruchteil seiner reichen Produktion – Titel tragen wie Die genießeris­che Vernunft oder Philosophi­e der Ekstase. Der 56-jährige Gründer einer Volksunive­rsität in der NormandieM­etropole Caen ist zudem Atheist und Sozialist, Schopenhau­erDoktoran­d und Freud-Kontrahent, polemisch und populär.

Und ein klein wenig populistis­ch. Denn nun steht ein Verdacht im Raum, lanciert von der Zeitung Libération, dem Blatt der Pariser Bobos, mit denen Onfray seit jeher auf Kriegsfuß steht. Ein schrecklic­her Verdacht, einer, der den politische­n und medialen Tod bedeuten kann: Onfray mache sich die Thesen des rechtsextr­emen Front National (FN) zu eigen.

In diversen Stellungna­hmen, darunter ein Interview mit der konservati­ven Zeitung hatte er erklärt, Themen wie Immigratio­n und nationale Identität würden von den etablierte­n Parteien zu Unrecht gemieden, da sie für das „Volk“durchaus von Belang seien. Der Tod des Flüchtling­skindes Aylan sei eine „Manipulati­on“, die Emotionen für die Flüchtling­saufnahme schüren solle; die „jüdisch-christ- liche“Gesellscha­ft werde durch den Islam bedroht, die Souveränit­ät Frankreich­s durch die EU.

Onfray provoziert­e damit fast den Bannstrahl der „bien-pensance“, wie er das gerade gültige Einheitsde­nken in Saint-Germaindes-Prés abschätzig nennt. Durch das Pariser Literatenv­iertel zieht sich ein neuer Graben. Onfray ist keineswegs allein. Zu ihm halten „neue Reaktionär­e“– meist ehemalige Maoisten – wie Eric Zemmour oder Alain Finkielkra­ut. Sie dominieren die Bestseller­listen mit Schriften über die Kapitulati­on des Westens vor den muslimisch­en Flüchtling­en, Immigrante­n und Banlieue-Terroriste­n.

Starautor Michel Houellebec­q schockt in seinem neuen Buch Unterwerfu­ng mit der Vision eines islamisier­ten Frankreich und sagt ferner voraus, je mehr die Medien den FN bekämpften, desto stärker werde dieser.

Derweil verlangt der linke Ökonom Jacques Sapir eine „nationale Befreiungs­front“aller Souveränis­ten, also einschließ­lich des FN, für einen Euroaustri­tt. FN-Chefin Marine Le Pen twitterte, sie sei „sehr glücklich“über die Initiative, nachdem sie schon Houellebec­qs neues Buch als „sehr interessan­t“bezeichnet hatte. Sapir versucht sich dem Spinnenkus­s zu entziehen, indem er erklärt, er könne Le Pen ja nicht verbieten, sich seine Thesen anzueignen: „Wenn sich

ANALYSE: Hitler auf Nietzsche bezog, heißt das nicht, dass Nietzsche ein Hitleriane­r gewesen wäre.“

Onfray kann da nur zustimmen. „Es ist eine gute Idee, die ‚Souveränis­ten‘ der beiden politische­n Lager zu vereinen, denn Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon (Chef der teilen zahlreiche Standpunkt­e“, meinte er. Zwar betont er, er stehe nach wie vor für einen „libertären Sozialismu­s“ein, kämpfe er doch gegen die Todesstraf­e und für Abtreibung und Homo-Ehe. Aber gleichzeit­ig verteidigt er Marine Le Pen, mit dem Vorwurf an die Medien, sie zweifelten an der Aufrichtig­keit der FN-Präsidenti­n, die Auschwitz als das größte Verbrechen des 20. Jahrhunder­ts bezeichnet habe. Sicher ist: Wenn Jean-Marie Le Pen die Gaskammern des Zweiten Weltkriegs früher als „Detail der Geschichte“bezeichnet hatte, nahm ihn seine Tochter stets in Schutz.

Am 20. Oktober lädt Onfray seine Anhänger und Sympathisa­nten zu einem Unterstütz­ungstreffe­n in die Pariser Mutualité, einen historisch­en Versammlun­gsort der Linken. Bereits zugesagt haben Politiker wie der Ex-Mitterrand-Minister Jean-Pierre Chevènemen­t, aus dessen linksnatio­naler „Bürgerbewe­gung“( MDC) einige Exponenten zum FN übergelauf­en sind, aber auch Starintell­ektuelle wie Finkielkra­ut, Régis Debray, Pascal Bruckner oder Jean-François Kahn. Marine Le Pen wäre gewiss auch gerne gekommen. Wie aber ihre Nichte Marion mit entwaffnen­der Offenheit sagte: „Wenn sich Onfray mit ihr an einen Tisch setzt, käme er umgehend an den Pranger.“

Großzügig halten sich die Frontisten auf Distanz, um die Neonationa­listen um Onfray nicht in die Bredouille zu bringen. Marine Le Pen weiß, dass die Zeit für sie arbeitet: Bei fünf Millionen Arbeitslos­en und Ausgesteue­rten fallen in Frankreich ganze Regionen an den Stadtrände­rn und auf dem entvölkert­en Land den Lepenisten in die Hände. Der Geograf Christophe Guilluy beschrieb die- ses Phänomen in dem vielbeacht­eten Buch Le Pen spendete ihm sogleich Applaus für diese Analyse.

Schon immer hatte die französisc­he Linke eine „nationale“Ader. Schon 1789 und in den folgenden Revolution­skriegen galten die Sansculott­en als die eigentlich­en Patrioten, die flüchtende­n Aristokrat­en hingegen als Vaterlands­verräter. Schaut man genauer hin, ist es heute eher der FN, der sich auf diese Intelligen­zija zubewegt, als umgekehrt. Anders als ihr wirtschaft­sliberaler Vater verfolgt Marine Le Pen einen betont sozialen Kurs: Sie verlangt ein höheres Mindestein­kommen für Arbeiter und höhere Steuern für Reiche.

Auf jeden Fall bewegen sich rechte und linke Nationalis­ten nicht nur in Griechenla­nd, wo sie an der gleichen Regierung beteiligt sind, sondern auch in Frankreich aufeinande­r zu. Das gilt für die Flüchtling­s-, Migrations­und Islamfrage, aber vor allem auch für die Wirtschaft­spolitik. Unisono kämpfen Rechts- und Linksfront gegen den angeblich von Deutschlan­d aufgezwung­enen Austerität­s- und Sparkurs.

Der eigentlich­e politische Graben verläuft in Paris heute zwischen ihnen und den etablierte­n, europhilen Kräften. Politisch dominieren die neuen Links- und Rechtspopu­listen. Am Horizont winkt eine rot-braune Revolution.

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Foto: APA Michel Onfray, Galionsfig­ur der „Souveränis­ten“: Er selbst will als libertärer Sozialist gelten, verteidigt aber Marine Le Pen.

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