„Wir sind Marionetten unserer Darmbakterien“
Es gibt eine Verbindung zwischen Darmflora und psychischer Gesundheit, sagt der irische Neurowissenschafter John Cryan. Ein Gespräch über Ernährung und die evolutionäre Rolle von Bakterien.
INTERVIEW: STANDARD: Etwas schlägt einem auf den Magen, sagt man gerne. Welche Verbindung besteht zwischen Darm und Hirn? Cryan: Vor rund zehn Jahren haben wir herausgefunden, dass der Schlüssel dieser Verbindung die Darmbakterien und deren Zusammensetzung sind. Sie haben Einfluss auf sämtliche Aspekte unserer Gesundheit. Als Neurowissenschafter interessiert mich das Gehirn. Heute kann ich sagen: Unsere Darmbakterien beeinflussen, wie es uns geht und wie wir uns verhalten.
STANDARD: Wie genau? Cryan: Wir haben das vorerst an Mäusen getestet. Wir ließen sie in einer sterilen Umgebung aufwachsen, sodass sie ohne Darmbakterien waren. Erste Ergebnisse zeigten, dass deren Gehirne sich nicht normal entwickelten. Besonders betroffen waren die Teile des Gehirns, die aktiv sind, wenn man Angst hat. Auch das Verhalten der Mäuse war anders als – die keimfreien Tiere hatten einen dauerhaft erhöhten Stresslevel.
STANDARD: Woher wissen Sie, dass sich diese Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen? Cryan: Es ist erwiesen, dass Menschen mit traumatischen Erlebnissen in der Kindheit mit größerer Wahrscheinlichkeit in ihrem weiteren Leben psychisch erkranken. Wir haben herausgefunden, dass bei diesen Menschen auch die Zusammensetzung der Darmbakterien anders ist. Man kann also im Darm ablesen, ob man in seinem frühen Leben psychischem Stress ausgesetzt war. Bei Mäusen funktioniert das auch nachweislich umgekehrt: Nimmt man ihnen die Bakterien, leiden sie an Dauerstress.
STANDARD: Richtige Ernährung verhindert demnach Stress? Cryan: Wir haben Tieren ganz bestimmte Lactobakterien gefüttert, und sie haben auf Stress weniger intensiv reagiert – sie verhielten sich, als wären sie auf Valium. Auch im Gehirn war die Veränderung nachweisbar. Eine Forschergruppe in Kalifornien hat kürzlich ein vergleichbares Experiment mit Menschen durchgeführt. Man hat Frauen ein fermentiertes Getränk mit bestimmten Probiotika und Lactobakterien verabreicht. Sie konnten eine veränderte Gehirnaktivität feststellen. Wir testen nun auch die positiven Effekte bestimmter Bakterien auf den Menschen.
STANDARD: Sollen alle Stressgeplagten vorsorglich Joghurt essen? Cryan: Die meisten Laktobakterien haben keine Auswirkungen auf Hirn oder Verhalten. Es gibt spezifische Arten, die einen Effekt haben. Es ist allerdings sehr individuell. Es gibt Bakterien, die bei dem einen wirken, bei dem anderen nicht. Wir haben noch keine Beweise, dass ein Joghurt aus dem Supermarkt Depressionen oder Stress mindert. Da müssen wir einfach noch weiter forschen.
STANDARD: Wie könnte man sich eine Verbindung zwischen Darm und Hirn biologisch vorstellen? Cryan: Über den Vagusnerv. Er sendet Signale vom Gehirn in alle Teile des Körpers. Wir konnten im Tierversuch zeigen: Schneidet man den Nerv durch, reagieren die Mäuse nicht mehr auf die Darmbakterien, die wir ihnen zuführen. Er spielt also eine zentrale Rolle.
Standard: Könnte falsche Ernährung schlechte Signale vom Darm ins Hirn leiten? Cryan: In Dänemark wurde Menschen mit Magengeschwüren bis in die 1980er-Jahre der Vagusnerv durchtrennt. Ein großer Teil der Bevölkerung dort lebt ohne diesen Darm-Hirn-Vermittler. Eine Studie zeigt, dass sie um fünfzig Prozent seltener an Parkinson erkranken. Es gibt also auch negative Signale, die vom Darm ins Gehirn geleitet werden.
STANDARD: Ihre Forschung zeigt, dass Mäuse ohne Darmbakterien weniger sozial sind. Wie? Cryan: Die Verdauung spielt zumindest eine Rolle. Die sozialen Effekte waren seltsamerweise deutlicher bei Männchen zu beobachten. Mäuse sind grundsätzlich soziale Wesen, für die keimfreien Tiere machte es aber keinen Unterschied, ob sie von Mäusen oder bloß Dingen umgeben waren.
STANDARD: Wie erklären Sie das? Cryan: Bakterien waren da, lange bevor das menschliche Gehirn zu dem wurde, was es heute ist. Sie hatten einen großen Einfluss auf unsere Gehirnentwicklung und auch darauf, dass wir soziale Wesen wurden. Denn davon profitieren Bakterien: In Sozialgefügen können sie sich wesentlich einfacher vermehren. Wir sind Marionetten unserer Darmbakterien.
STANDARD: Unsere Ernährung beeinflusst die Psyche? Cryan: Absolut. Ein Joghurtdrink heilt keine Depressionen, aber vermutlich ist es so, dass eine veränderte Zusammensetzung der Darmbakterien auch das Verhalten verändert.
STANDARD: essen? Cryan: Studien aus Afrika zeigen: Das westliche Leben hat unser Repertoire an Darmbakterien verringert. Fertiggerichte und Süßstoffe ruinieren nachweislich den Darm. Man sollte vielseitig und ausgewogen essen. Grünes Gemüse und Getreide sind gut, am wichtigsten ist es, frisch zu kochen. Fastfood sollte man meiden. Auch Antibiotika, die ja die Darmflora angreifen, könnten psychische Krankheiten hervorrufen.
STANDARD: Welche Lehren sollte die Medizin daraus ziehen? Cryan: Da wird sich eine große Industrie bilden in den kommenden fünf Jahren. Ich bin davon überzeugt, dass Menschen künftig – wie ihre Blutwerte – auch ihre Darmflora regelmäßig überprüfen lassen.
JOHN CRYAN (42) ist Professor für Neurowissenschaften am University College Cork in Irland. Die Med-Uni Innsbruck lud ihn als Gastlektor im Rahmen der „Summer School“nach Tirol.