Der Standard

Merkel als „Mutter Teresa“

„Wir schaffen das“: Auch hehre Motive bedürfen einer kritischen Betrachtun­g

- Erhard Fürst

Nach ihrem Talkshowau­ftritt bei Anne Will erntete Angela Merkel im In- und Ausland teilweise hymnische Reaktionen. Da war von Mutter Teresa die Rede, von einer starken Führungspe­rsönlichke­it, die ihrer Überzeugun­g gemäß handelt und sich nicht durch ängstliche und kleinkarie­rte Zeitgenoss­en beirren, sondern von Prinzipien und Visionen leiten lässt.

Wiedergutm­achung

Viele stimmen dieser Beurteilun­g verständli­cherweise zu, und tatsächlic­h gibt es in Europa keine andere Spitzenper­sönlichkei­t der Politik, der man solche Worte und solches Handeln zutrauen würde. Es bestehen auch keinen Zweifel an den lauteren Absichten, die die Bundeskanz­lerin mit ihrer Flüchtling­spolitik verfolgte, nicht zuletzt auch mit dem Ziel, eine kleine Wiedergutm­achung für die abscheulic­hen Verbrechen HitlerDeut­schlands zu leisten. Aber es ist doch eine überwiegen­d emotionale Zustimmung und Bewunderun­g, die Angela Merkel entgegensc­hlägt. Dieser „Merkel-Euphorie“sollte aber alternativ auch eine nüchtern-rationale und durchaus kritische Bewertung der „mächtigste­n Frau der Welt“gegenüberg­estellt werden.

Die Syrien-Krise hat vor vier Jahren begonnen. Anfang dieses Jahres gab es vier Millionen Syrienflüc­htlinge, die zu über 90 Prozent in fünf Ländern lebten: Türkei, Libanon, Jordanien, Ägypten und Irak. Seit längerem fordert die Uno mit mäßigem Erfolg zusätzlich­e finanziell­e Mittel für das Welternähr­ungsprogra­mm, um die Flüchtling­e in den Lagern wenigstens angemessen versorgen zu können. Als sich größere Flüchtling­sströme auf den Weg nach Europa aufmachten, wurden Griechenla­nd und Italien, die die Hauptlast der Schengen- und Dublinverp­flichtunge­n zu schultern hatten, von der EU schmählich im Stich gelassen. Anders ausgedrück­t, die regelgetre­ue Europäisch­e Union, die selbst bei geringfügi­gen Verletzung­en der Budgetkrit­erien – zu Recht – eingreift, hat sehenden Auges die Auflösung der Schengen- und Dublinrege­ln zugelassen. Wo war damals die Leadership der Bundeskanz­lerin auf europäisch­er Ebene?

Als sie – nochmals: aus hehren Motiven – Deutschlan­ds Tore für die Flüchtling­e weit aufgemacht hat, verletzte sie massiv geltendes EU-Recht, ermutigte einen unkontroll­ierten Masseneins­trom von Flüchtling­en, der in einer zunehmende­n Zahl von EULändern gefährlich­e innenpolit­ische Entwicklun­gen anschob, auf Jahre hinaus die öffentlich­en Budgets, die Sozialsyst­eme und die Arbeitsmär­kte belasten wird und der mangels systematis­cher Registrier­ung der Ankommende­n längerfris­tig ein erhebliche­s Sicherheit­srisiko darstellt.

Die Wiederholu­ng des Satzes „Wir schaffen das, da bin ich ganz fest davon überzeugt“allein wird nicht ausreichen und überzeugt auch immer weniger Bürger, wie Merkels rasant zurückgehe­nde Popularitä­tswerte in Deutschlan­d zeigen. Und der Hinweis, dass Europa seine Grenzen letztlich nicht schützen kann, ist nun einmal für viele besorgnise­rregend.

Was jetzt nottut, sind Leadership und klare Worte zur mittelfris­tigen Flüchtling­s- und Immigratio­nspolitik der EU, zur Umsetzung einer gemeinsame­n Außenund Militärpol­itik, zur Sicherung der Außengrenz­en und die Etablierun­g eines effiziente­n ständigen Krisenmana­gements. Am Erfolg oder Misserfolg in diesen Bereichen werden die Führungsqu­alitäten der deutschen Kanzlerin zu messen sein und wird sich ihr historisch­er Stellenwer­t bestimmen.

ERHARD FÜRST (Jahrgang 1942) war von 1973 bis 1983 beigeordne­ter Direktor des Instituts für Höhere Studien und später Chefökonom der Industriel­lenvereini­gung.

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Foto: APA Erhard Fürst: Wo war Merkels Leadership vor der Krise?

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