Gefährlicher als die Eurokrise
Nach der Finanzkrise legen Probleme mit Flüchtlingen schwere EU-Mängel offen
So hat man Angela Merkel bei einem EU-Gipfel noch nie gesehen. Als die deutsche Kanzlerin die dünnen Ergebnisse der Aussprache zur Flüchtlingsproblematik erläuterte, wirkte sie schwer angeschlagen. Die Augen rot unterlaufen, verlor sich die sonst so präzise Physikerin oft in Satzschleifen, wirkte ungewöhnlich defensiv, ratlos.
Vielleicht war sie nach dem monatelangen Krisenmanagement – von Griechenland über Ukraine bis Syrien und Seehofer – einfach nur hundemüde. Oder sie konnte ihre Enttäuschung darüber, was sie gerade erlebt hatte, kaum unterdrücken.
Vermutlich beides. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hat Deutschland wegen des nicht enden wollenden Zustroms an Flüchtlingen – jede Stunde kommen derzeit dreihundert illegal über die Grenze – echte Probleme. Für ihre humane Haltung und Offenheit gewann Merkel zu Hause viel Sympathie, wenn auch die Kritik in den Parteien wächst, wonach es „so nicht weitergehen kann“. ber nun sind die Partner in der Europäischen Union nicht bereit, Berlin mutig beizustehen. In Richtung Polen und Ungarn, Tschechien und Slowakei (die den Deutschen bei der EU-Integration so viel zu verdanken haben) sagte Merkel, sie „verstehe noch nicht, warum sie so hart sind“.
Von der „Eisernen Kanzlerin“, die noch vor ein paar Monaten für ihre Härte und Durchsetzungskraft in der Griechenlandkrise gelobt und kritisiert wurde, jedenfalls aber gefürchtet war, war dabei wenig zu spüren. „Die Frau ist geschafft. Der Druck der vergangenen Wochen hat sich in Merkels Körper gefressen“, schrieb ausgerechnet die konservative zum Auftritt der Christdemokratin.
Nicht nur in Deutschland, auch im Rest Europas müssten die Alarmglocken schrillen. Auch in jenen EU-Partnerstaaten, die sich nun in den Couloirs klammheimlich über die so blitzartig entstandene Schwäche in Berlin „freuen“, weil sie sich selber während der Finanz-, Schulden- und Eurokrise jahrelang unter ungehörigem deutschem Druck gesehen haben. Für billige Genugtuung besteht null Anlass.
Es wäre für die Zukunft der Union nämlich fatal, wenn ausgerechnet jenes Land ins Schlingern geriete, das in fast sieben Jahren Dauerkrise politisch
Astabil geblieben ist. Mit seiner wirtschaftlichen Stärke – und auch weil rechtsradikale und antieuropäische Kräfte im Land (anders als in vielen anderen EU-Staaten) realpolitisch keine Rolle spielen – konnte Berlin stets verlässlich zur Gemeinschaft stehen und die Schwäche in Frankreich und die Unwilligkeit Großbritanniens ausgleichen. Bei aller Kritik hat Berlin oft Schlimmeres verhindert.
Bei der Flüchtlingskrise, die (neben Schweden) vor allem Deutschland trifft, ist das nicht möglich. Dieses wahrhaft kontinentale Problem, das so durch eine der wichtigsten Säulen der Gemeinschaft – die offenen Grenzen – befeuert wird, lässt sich mit Geld nicht lösen. Es braucht vielmehr eine große Portion an Solidarität zwischen den Staaten, weil es um die Aufnahme von Menschen geht.
Wie beim Euro im gemeinsamen Währungsraum zeigen sich jetzt die EU-vertraglichen Mängel, die man bei der Abschaffung der Grenzkontrollen im Schengenraum in Kauf nahm. Es waren das (so wie einst der Euro-Stabilitätspakt) Schönwetterkonzepte.
Gelingt es nicht, das solidarisch zu reformieren, drohen das Ende der Offenheit und neue Grenzen.