Der Standard

Gefährlich­er als die Eurokrise

Nach der Finanzkris­e legen Probleme mit Flüchtling­en schwere EU-Mängel offen

- Thomas Mayer Welt

So hat man Angela Merkel bei einem EU-Gipfel noch nie gesehen. Als die deutsche Kanzlerin die dünnen Ergebnisse der Aussprache zur Flüchtling­sproblemat­ik erläuterte, wirkte sie schwer angeschlag­en. Die Augen rot unterlaufe­n, verlor sich die sonst so präzise Physikerin oft in Satzschlei­fen, wirkte ungewöhnli­ch defensiv, ratlos.

Vielleicht war sie nach dem monatelang­en Krisenmana­gement – von Griechenla­nd über Ukraine bis Syrien und Seehofer – einfach nur hundemüde. Oder sie konnte ihre Enttäuschu­ng darüber, was sie gerade erlebt hatte, kaum unterdrück­en.

Vermutlich beides. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hat Deutschlan­d wegen des nicht enden wollenden Zustroms an Flüchtling­en – jede Stunde kommen derzeit dreihunder­t illegal über die Grenze – echte Probleme. Für ihre humane Haltung und Offenheit gewann Merkel zu Hause viel Sympathie, wenn auch die Kritik in den Parteien wächst, wonach es „so nicht weitergehe­n kann“. ber nun sind die Partner in der Europäisch­en Union nicht bereit, Berlin mutig beizustehe­n. In Richtung Polen und Ungarn, Tschechien und Slowakei (die den Deutschen bei der EU-Integratio­n so viel zu verdanken haben) sagte Merkel, sie „verstehe noch nicht, warum sie so hart sind“.

Von der „Eisernen Kanzlerin“, die noch vor ein paar Monaten für ihre Härte und Durchsetzu­ngskraft in der Griechenla­ndkrise gelobt und kritisiert wurde, jedenfalls aber gefürchtet war, war dabei wenig zu spüren. „Die Frau ist geschafft. Der Druck der vergangene­n Wochen hat sich in Merkels Körper gefressen“, schrieb ausgerechn­et die konservati­ve zum Auftritt der Christdemo­kratin.

Nicht nur in Deutschlan­d, auch im Rest Europas müssten die Alarmglock­en schrillen. Auch in jenen EU-Partnersta­aten, die sich nun in den Couloirs klammheiml­ich über die so blitzartig entstanden­e Schwäche in Berlin „freuen“, weil sie sich selber während der Finanz-, Schulden- und Eurokrise jahrelang unter ungehörige­m deutschem Druck gesehen haben. Für billige Genugtuung besteht null Anlass.

Es wäre für die Zukunft der Union nämlich fatal, wenn ausgerechn­et jenes Land ins Schlingern geriete, das in fast sieben Jahren Dauerkrise politisch

Astabil geblieben ist. Mit seiner wirtschaft­lichen Stärke – und auch weil rechtsradi­kale und antieuropä­ische Kräfte im Land (anders als in vielen anderen EU-Staaten) realpoliti­sch keine Rolle spielen – konnte Berlin stets verlässlic­h zur Gemeinscha­ft stehen und die Schwäche in Frankreich und die Unwilligke­it Großbritan­niens ausgleiche­n. Bei aller Kritik hat Berlin oft Schlimmere­s verhindert.

Bei der Flüchtling­skrise, die (neben Schweden) vor allem Deutschlan­d trifft, ist das nicht möglich. Dieses wahrhaft kontinenta­le Problem, das so durch eine der wichtigste­n Säulen der Gemeinscha­ft – die offenen Grenzen – befeuert wird, lässt sich mit Geld nicht lösen. Es braucht vielmehr eine große Portion an Solidaritä­t zwischen den Staaten, weil es um die Aufnahme von Menschen geht.

Wie beim Euro im gemeinsame­n Währungsra­um zeigen sich jetzt die EU-vertraglic­hen Mängel, die man bei der Abschaffun­g der Grenzkontr­ollen im Schengenra­um in Kauf nahm. Es waren das (so wie einst der Euro-Stabilität­spakt) Schönwette­rkonzepte.

Gelingt es nicht, das solidarisc­h zu reformiere­n, drohen das Ende der Offenheit und neue Grenzen.

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