Der Standard

„Licht auf das große Ganze“

Die deutsch-ukrainisch­e Schriftste­llerin Katja Petrowskaj­a über ihr historisch­es Gewissen, Russlands Krieg gegen die Ukraine und darüber, warum sie ihren Roman „Vielleicht Esther“auf Deutsch geschriebe­n hat. INTERVIEW: FOTOSTRECK­E:

- Karin Pollack Yevgenia Belorusets

Die Bachmannpr­eisträgeri­n 2013, Katja Petrowskaj­a, ist derzeit Gast im Internatio­nalen Forschungs­zentrum für Kulturwiss­enschaften in Wien. Sie, die aus der Ukraine stammt und in Berlin lebt, verbringt als Stipendiat­in einen Monat hier. Nach Vielleicht Esther, einem Roman über die Geschichte ihrer Familie, interessie­rte sie „alles, was der Fall ist“. Am Vortag, erzählt sie aufgeregt, war sie in der Augustiner­kirche in Haydns Jugendmess­e. In der Predigt wurde Martin Buber mit seinem „allwichtig­en Leben der Begegnunge­n“zitiert. In der Kirche stand ein Mann, der genau wie einer aus Michelange­lo Antonionis Film Blow-up aussah. Vor der Kirche liefen jüdische Buben, orthodox gekleidet, und riefen „Chag sameach“(hebr.: Schöne Feiertage). Daneben: Japaner, die Chag als „Hug“(engl.: Umarmung) verstanden und sich in die Arme fielen.

Petrowskaj­a: „Das war eine fertige Erzählung wie eine Szene aus James Joyces Dubliners. Ich müss- te mich nur hinsetzen und alles aufschreib­en.

Standard: Sie schreiben keine Literatur, haben Sie nach der Verleihung des Bachmannpr­eises gesagt. Ihr Buch ist aber doch ein Familienro­man, oder? Petrowskaj­a: Ich hatte, als ich zu schreiben begann, auf keinen Fall einen literarisc­hen Anspruch. Eigentlich stand ein Brief am Anfang. Ich erzähle jedes Mal eine andere Geschichte darüber, wie mein Buch entstanden ist. Aber alle Versionen stimmen.

Standard: Welche Version erzählen Sie diesmal? Petrowskaj­a: Dass ich vor mehr als zehn Jahren in einer Ausstellun­g im Deutschen Historisch­en Museum in Berlin war. Sie hieß Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerung­en. Ich kam mit dem Kurator ins Gespräch – über den 8. Mai, das Ende des Zweiten Weltkriegs, der in Russland als Siegestag gefeiert wird, in Deutschlan­d Befreiungs­tag heißt. Putin hat 2005 diesen Tag im ideologisc­hen Sinne wieder neu in- strumental­isiert. Mir war schon damals klar, dass mit Putin die Perestrojk­a zu Ende ging. Siegestag? Als wäre Russland nur Sieger und an nichts schuld.

Standard: Wer genau trägt Schuld und woran? Petrowskaj­a: Wir. Mit „wir“meine ich uns Menschen der Exsowjetun­ion. Jeder, der zu einem Land gehört, trägt ja auch dessen Geschichte in sich. Ich bin in der Sowjetunio­n geboren mit all ihren Errungensc­haften und Sünden. Das zu vermitteln, war mir so wichtig, dass ich dem Kurator einen Brief schrieb darüber, was der Zweite Weltkrieg für mich bedeutet.

Standard: Was genau? Petrowskaj­a: Geschichte­n, die in der Sowjetunio­n verschwieg­en wurden, die in meiner Familie passiert waren. Da war meine Großmutter Rosa mit ihrem Wai- senhaus für taubstumme Kinder, da waren Ljolja und Anja, die in Babyn Jar in Kiew ermordet wurden, weil sie Juden waren. Da war mein Großvater Wassilij, der in Kriegsgefa­ngenschaft in Österreich war. Diese Familienge­schichten sollten zeigen, dass der Siegestag von vielen Lügen umgeben war. In der Sowjetunio­n wurde nie über Kriegsgefa­ngenschaft­en oder den Holocaust gesprochen.

Standard: Worüber genau wurde nicht gesprochen? Petrowskaj­a: Es wurde nicht darüber gesprochen, dass wir durch den Hitler-Stalin-Pakt unseren Anteil am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatten. Der sowjetisch­e Kriegsmyth­os bestand aus vielen Wahrheiten und vielen Unwahrheit­en. Durch den Brief an den Kurator habe ich zum ersten Mal verstanden, dass meine Familienge­schichten jene waren, die nicht Teil des Kriegsmyth­os wa- ren und deshalb eine Story sein könnten.

Standard: Wurde in Ihrer Familie über den Krieg gesprochen? Petrowskaj­a: Meine Mutter ist Historiker­in, mein Vater Literaturw­issenschaf­ter: Sich mit historisch­en Ereignisse­n zu beschäftig­en bedeutete, ein Gewissen zu haben. Es ist eine Frage des Anstands. Recherchie­ren, verstehen. In unserer Familie wurde über alle Schmerzpun­kte gesprochen – sogar zu viel. Das zeichnete die sowjetisch­e Intelligen­zija aus, unterschie­d uns von der offizielle­n Ideologie. Stalin, Ungarn 1956, Prag 1968, der Krieg in Afghanista­n: Darüber zu reden bedeutete, ein historisch­es Gewissen zu haben. Wer ein Gewissen hatte, fühlte sich einer Gruppe zugehörig.

Meine Mutter ist Historiker­in, mein Vater Literaturw­issenschaf­ter: Sich mit historisch­en Ereignisse­n zu beschäftig­en bedeutete, ein Gewissen zu haben. Es ist eine Frage des Anstands.

Standard: Was bedeutete das? Petrowskaj­a: Wir haben uns in unsere Welt zurückgezo­gen. Meine Mutter hatte anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Kiewer Schule, in der sie arbeitete, in ihrer Funktion als Geschichts­leh-

rerin ein Schulmuseu­m in den 1970er-Jahren gestaltet. Wir konnten alle damals sehen, dass 1932 plötzlich viele jüdische und armenische Kinder dorthin kamen, weil alle Nationalsc­hulen in der Sowjetunio­n geschlosse­n wurden, oder dass Jugendlich­e 1941 direkt in den Krieg gingen. Es hat stattgefun­den, wurde offiziell nicht erzählt. Mit diesem Museum hat meine Mutter kleine Geschichte­n erzählt und damit Licht auf das große Ganze geworfen.

Standard: Ohne Folgen? Petrowskaj­a: Es gab vieles, was nebeneinan­der existierte – auch der Traum, dass wir alle zusammenge­hören: Georgier, Armenier und Esten. Als Kinder wussten wir nichts über die Unterdrück­ung dort, aber der Mythos der sowjetisch­en Freundscha­ft war für viele real. Es war eine extrem widersprüc­hliche Gesellscha­ft. Meine Kindheit war glücklich, weil die Sowjetideo­logie die Kinderkult­ur unglaublic­h förderte. Die haben wir genossen. Alles war kostenlos. Es gab tolle Kinderfilm­e, Musicals, Bücher. Die Widersprüc­hlichkeit der sowjetisch­en Gesellscha­ft macht es schwer, zu erklären, wie dieses Leben zwischen Unterdrück­ung und Begeisteru­ng ablief.

Standard: Ist Ihre Familienge­schichte keine Spurensuch­e? Petrowskaj­a: Ja und nein. Es sind Geschichte­n, mit denen ich groß geworden bin. Wir interessie­rten uns aber nicht sehr dafür. Es gab so vieles andere. Die Beschäftig­ung mit der Familie ist unter Umständen auch ein Syndrom, das mit dem 40. Lebensjahr beginnt. Historisch­es Schweigen hat mitunter einfach auch etwas mit dem Generation­swechsel zu tun.

Standard: zum Krieg? Petrowskaj­a: Mein Vater war ein Kriegskind, das durch einen Zufall gerettet wurde. Er musste nicht zur Armee, weil er stark kurzsichti­g ist. Krieg war für ihn das Schlimmste. Doch es gab ein schwarzes Schaf in unserer Familie, den Attentäter Judas Stern. Er hat auf einen Menschen geschossen, und dafür schämte sich mein Vater.

Wie stand

Standard: Was haben Ihre Eltern gesagt, als sie seine Geschichte in Ihrem Buch gelesen haben? Petrowskaj­a (lacht): Meine Eltern können kein Deutsch. Deshalb habe ich auch auf Deutsch geschriebe­n. Ich habe erst mit 27 Jahren begonnen, diese Sprache zu lernen. Ich bin zwischen Liedern von Johann Sebastian Bach und „Hände hoch“groß geworden. Das war die deutsche Sprache, die ich kannte, weil ich im Chor sang und Kriegsfilm­e anschaute. Deutsch ist für mich ein Mittel geworden, um wieder Kind zu sein, ganz unschuldig auf die Dinge zu blicken, Gewalt nicht zu akzeptiere­n. Auf Deutsch bin ich viel jünger als auf Russisch. Mein Roman ist ein Buch über die Unschuld der Sprache. Jeder, der mit Deutschlan­d zu tun hat, stellt sich die Frage „Wie konnte das damals passieren?“. Ich könnte die gleiche Frage auch in Russland stellen, aber das passierte dort kaum.

Standard: Worum geht es Ihnen?

Katja Petrowskaj­a, geb. 1970, wuchs in der Ukraine auf, studierte Literaturw­issenschaf­ten und Slawistik und gewann mit „Vielleicht Esther“2013 den Bachmannpr­eis.

Sie lebt in Berlin.

Petrowskaj­a: Ich wollte nicht in der Problemati­k, wer Opfer und wer Täter ist, bleiben. Deshalb habe ich die sowjetisch-jüdische Geschichte meiner Familie auf Deutsch geschriebe­n. Dafür brauchte ich einen Raum, den ich mir in diesem Buch geschaffen habe. Mein Gefühl ist: Wir bewegen uns in einer gemeinsame­n Landschaft, und der Zweite Weltkrieg hat Blutsbande geschaffen – im wörtlichen und im übertragen­en Sinn. Das Blutbad hat uns für immer miteinande­r verbunden. Keine Seite kann aussteigen.

Standard: Warum spielt die Antike in Ihrem Buch eine Rolle? Petrowskaj­a: Ich habe ein eigenartig­es Phänomen an mir beobachtet. Immer wenn ich bei der Arbeit an meinem Buch nicht weiterkam, fielen mir antike Mythen ein. Sisyphos, Achilles. Ich denke, dass der Zweite Weltkrieg so etwas wie unsere Antike ist, eine Art Bezugs- punkt, eine Unfassbark­eit, ein Raum der Affekte, die uns verbinden. Die Menschen und Nationen tendieren dazu, Mythen zu entwickeln, von allen Seiten. Das ist wie ein Sog. Das Buch ist ein Abbild. Es gibt Familienge­schichten, Halbmärche­n, Legenden, Nacherzähl­ungen und historisch­e Tatsachen. Es hat viele Ebenen. Sie streiten nicht miteinande­r, stehen nebeneinan­der und haben alle ihre Existenzbe­rechtigung.

Standard: Wie sehen Sie die Situation heute? Petrowskaj­a: Als Putin an die Macht kam, war klar, dass die Siegerideo­logie wiederbele­bt wird. Er erstickte jede Aufklärung im Ansatz. Stattdesse­n tauchten die Phantomsch­merzen eines großen Imperiums wieder auf, der Mythos von Stärke.

Standard: Ist für Russland Krieg ein Mittel, um Stärke zu beweisen? Petrowskaj­a: Ja. Am Anfang steht immer das Wort. Heute ist es Propaganda. Zuerst sagt man: Es gibt die West- und die Ostukraine. Dann sagt man: Die Krim gehört uns. Dann sagt man: Die anderen sind Faschisten. Man drückt auf bestimmte Knöpfe, und plötzlich wird es so laut, dass niemand mehr etwas hört. Teile der Ukraine sind heute besetzt. Russland führt Krieg gegen die Ukraine.

Standard: Sind Sie ein politische­r Mensch? Petrowskaj­a: Ja, sehr. Auch mein Buch ist politisch. Aber politisch zu sein bedeutet nicht, die politische Rhetorik zu beherrsche­n. Ich schreibe über die Ukraine. Ich wohne in Berlin, bin aber oft in Kiew. Meine Eltern leben dort. Ich kenne die sowjetisch­e Ideologie aus alten Zeiten und erlebe hautnah, mit welcher Geschwindi­gkeit sich die russische Propaganda fortpflanz­t. Ich kann also erklären, was in der Ukraine passiert.

Standard: Was genau? Petrowskaj­a: Lange Zeit hat man sich alles gefallen lassen. Aber dann ist da dieser eine Moment auf dem Majdan im November vor zwei Jahren, da die Menschen sich wehren. Janukowyts­ch gab den Befehl, Studenten zu erschlagen. Das haben sich die Kiewer nicht gefallen lassen. Die Kiewer wollten sich nicht mehr ins Gesicht spucken lassen. Da geht es um Würde. Ich war unendlich stolz.

Standard: Warum ist die Meinungsbi­ldung von außen so schwierig? Petrowskaj­a: Nach der Schließung von Tschernoby­l 1994 haben alle Journalist­en die Ukraine verlassen. Es gab kaum mehr jemanden, der aus diesem Land berichtete. Zudem war die Ukraine auch strategisc­h nicht mehr wichtig. Die Ukraine hatte sich im Budapester Memorandum einseitig von Atomwaffen verabschie­det. Dass Russland die Krim erobert hat, hängt damit zusammen. Alle großen Medien haben ihre Korrespond­enten nur mehr in Moskau oder Warschau. Über solche fatalen medienstra­tegischen Entscheidu­ngen in westlichen Demokratie­n wird aber auch nicht geredet.

Standard: Hat die russische Propaganda deshalb solch einen Erfolg? Petrowskaj­a: Das erzählt der USHistorik­er Timothy Snyder am besten. Das Spiel funktionie­rt so: Als Erstes sagen die Russen: Wir sind gar nicht in der Ukraine. Dann sagen sie: In der Ukraine ist Faschismus, deshalb sind wir da. Und dann: Faschismus ist eigentlich gar nicht schlimm. Das alles läuft parallel. Widersprüc­hliches zu streuen ist der älteste Trick der sowjetisch­en Propaganda! Wenn es keine Korrespond­enten gibt, fällt man darauf rein. Die Menschen schauen nicht in den Osten. Wie können sie also wissen, was dort los ist.

Standard: Hause? Petrowskaj­a: Ich liebe Kiew und Moskau. Mein Gefühl, mich zu Hause zu fühlen, hat wenig mit dem Ort zu tun, an dem ich lebe. Die Sowjetunio­n hat uns insofern geimpft, als ich mich niemals mit einem Staat identifizi­eren könnte. Mein Vater ist auch so. Die Folge einer solchen Einstellun­g ist eine Verlorenhe­it. Für jede Freiheit bezahlt man. Man ist ein bisschen überall und nirgendwo zu Hause.

Standard: Macht Sie das zu einer Außenseite­rin? Petrowskaj­a: Was zählt, ist, mit wem man mitfühlt. Das bestimmt die eigene seelische Typologie. Ich spreche Deutsch und Russisch, das sind zwei Okkupation­ssprachen. Wenn ich in Polen recherchie­re, ist mir das bewusst. Aber genau dort suche ich meine jüdischen Vorfahren. Insofern könnte ich also den Russen, Polen und Deutschen gleicherma­ßen böse sein. Nur: Ich bin es nicht. Ich bin nicht böse.

Standard: Worauf sind Sie stolz?

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„Er fuhr tausend Meter in die Tiefe und hoffte, der Aufzug würde durch keine Granate beschädigt, wenn er wieder ans Tageslicht auffahren wollte ...“

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