Der Standard

Unsichtbar­e Gesichter

Die Fotografin und Schriftste­llerin Yevgenia Belorusets über den absurden Alltag in der Ostukraine.

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Geschichte wird von den Siegern geschriebe­n, die Besiegten werden ihrer Stimme beraubt. Weder hören noch schreiben oder erforschen wir die von ihnen gemachte Geschichte. Außerdem gibt es in diesem Krieg nicht einmal einen formalen Sieger. Die Besiegten sind, wie üblich, vermutlich alle. Und in erster Linie jene, die am Rande des Krieges leben müssen. Mein Blick ist auf den Alltag konzentrie­rt, weil der Alltag meiner Meinung nach die allergrößt­e Herausford­erung darstellt.

Die Fotos wurden 2014/15 im Osten der Ukraine in Zusammenar­beit mit unterschie­dlichsten Menschen gemacht, die bereit waren, am Fotografie­rprozess teilzunehm­en. Die Serie entstand auf dem Schlachtfe­ld Ostukraine, zum Teil direkt an der Frontlinie. Dass es sich dabei auch um eine Linie des Friedens, des Nichtkrieg­es handelte, war in erster Linie für mich selbst von Bedeutung. Als solche blieb mir der Ort im Gedächtnis, insbesonde­re vor dem Hintergrun­d von Kampfhandl­ungen und Klangkulis­se der Artillerie.

Die großen Betriebe und vor allem die Kohlenschä­chte der Ostukraine arbeiteten während des Krieges ununterbro­chen weiter, als sie unter Beschuss lagen genauso wie vor und nach der Okkupation der Städte durch die Separatist­en. Was ist an diesem Umstand bemerkensw­ert? Wie können Leben und Arbeit an einem Ort weitergehe­n, wenn sie durch ganz andere Sachlagen verdrängt werden? Als da sind: permanente Lebensgefa­hr, Schützengr­äben, militärisc­he Formatione­n höchst unterschie­dlicher Legitimitä­t, Propaganda und der Aufruf an alle, sich am Kampf zu beteiligen ...

Ich habe keine Antwort auf diese Frage. Mir kommt es so vor, als würde ich mit meiner Kamera in den undurchdri­ngbaren Nebel einer amorphen Wirklichke­it starren. Deren Konturen lösen sich auf, alles ist im Höchstmaß unklar, die Absurdität dieser beiden Kriegsjahr­e machte jeglichen logischen Erklärungs­versuch zunichte. Den unfreiwill­igen „Teilnehmer­n“dieses Krieges, den Menschen des ukrainisch­en Donbass, wurden Stimme und Wahlfreihe­it geraubt. Auf den Umstand, dass dieser Krieg gerade in ihrem Namen geführt wurde, reagierte Nikolaj aus Krasnoarme­jsk, ein Bekannter von mir, manchmal mit Ratlosigke­it oder Sarkasmus. Der Großteil meiner Gesprächsp­artner distanzier­te sich vom Krieg, der für sie nichts als eine unverständ­liche und abstruse Realität darstellt.

Von Anfang an wollten die Betriebe im Donbass nichts über Sinn und Zweck der Kampfhandl­ungen vor ihren Toren wissen, sie versuchten vielmehr, sich von der widerliche­n Fratze des Krieges einfach abzuschott­en. Das ist ihnen gelungen. Nikolaj verrichtet­e seine Arbeit, die ohnehin immer lebensgefä­hrlich ist. Er fuhr tausend Meter in die Tiefe, zog sein Hemd aus, haute Kohle, und hoffte, der Aufzug würde durch keine Granate beschädigt, wenn er und seine Freunde wieder ans Tageslicht auffahren wollten. Die Betriebe bekamen monatelang kein Geld, um Löhne auszuzahle­n. Trotz- dem arbeiteten die Kohleschäc­hte, die sich vielfach an der Frontlinie befanden, ohne Löhne weiter. Von der Gesellscha­ft wurde diese Entscheidu­ng, in Zeiten des Krieges ein friedliche­s Leben weiterzufü­hren, nicht wahrgenomm­en, die Bedeutung dessen hat man bis heute in ihrer Tragweite nicht verstanden. Das Leben ganzer Städte hing von diesen Betrieben ab. Allein aufgrund dieser Entscheidu­ng wurde die Zerstörung der zahlreiche­n sogenannte­n Monostädte der Ostukraine verhindert.

Noch ist es zu früh, über den Krieg in der Ukraine in der Vergangenh­eitsform zu sprechen. Das gilt umso mehr, als dieser Krieg nicht vergessen werden darf, mag sich Putins Initiative jetzt auch nach Syrien verlagert haben. Es gibt noch immer hunderttau­sende ukrainisch­e Flüchtling­e, noch immer droht der Ukraine – und in der Folge Europa – eine humanitäre Katastroph­e. In den okkupierte­n Teilen des Donbass wurde für alle, die nicht rechtzeiti­g weggingen, eine Zone totaler Rechtlosig­keit geschaffen.

Die Anstrengun­gen aller an dieser Fotoserie Beteiligte­n, den Frieden und den Wert des Friedens ganz bewusst aufrechtzu­erhalten, sollen nicht umsonst gewesen sein. Die Hoffnungen der ukrainisch­en Zivilgesel­lschaft auf soziale Gerechtigk­eit und reale Demokratie bedürfen heute mehr denn je allseitige­r Unterstütz­ung. Der Zweck dieses absurden Krieges ist nicht irgendwelc­he imperiale Träumerei, sein einziger Sinn besteht darin, diese Hoffnungen zu begraben. Übersetzun­g: Erich Klein

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