Der Standard

Stimmen aus Grenzräume­n des Untergangs

Mit einem kühnen Roman über die Fluchtgesc­hichte einer jüdischen Familie aus Görz setzt Daša Drndić der Dokumentar­literatur neue Maßstäbe.

- Kurt Neumann

Eine in drei Spalten über 71 Seiten geführte Namenslist­e ist nicht der einzige ungewöhnli­che, wohl aber der denkwürdig­ste Baustein des kühnen Buchs Sonnensche­in der in Rijeka lebenden Autorin Daša Drndić, sie allein schon sprengt Muster und Rahmen herkömmlic­her Familienro­mane. Das Geschehen konzentrie­rt sich auf die mehrsprach­ige, heute zweigeteil­te Stadt Gorizia/ Gorica/Görz, deren Umland entlang des Isonzo =der Soča im Ersten Weltkrieg mit blutigstem Aberwitz umkämpft war, und die Stadt Triest, zur Zeit der faschistis­chen und Naziherrsc­haft.

Der Roman beginnt und endet jedoch mit zwei Szenen aus dem Jahr 2006: Die erste zeigt seine 83jährige Zentralfig­ur Haya Tedeschi, die hinter dem Fenster ihrer Wohnung auf die Wiederkehr ihres Sohnes wartet. Der war ihr vor 62 Jahren als Säugling von den in der Stadt herrschend­en Nazis geraubt und in einem vom Menschenzu­chtprogram­m „Lebensborn“betriebene­n Heim nahe Gmunden in Österreich untergebra­cht worden. Das erfährt man erst im dritten Teil des Buches, das mit einer gesangsart­igen Paraphrase auf T. S. Eliots großes Poem The Waste Land endet: So nämlich nimmt der in Salzburg aufgewachs­ene Sohn Hans Traube die erste bewusste Begegnung mit seiner leiblichen Mutter in der Brechung und Zerrissenh­eit jener Verse imaginiere­nd vorweg. Die Leitidee der Romankonze­ption, dem Faktum und der Vorstellun­g einen gemeinsame­n Anschauung­sraum zu behaupten, in dem die Erinnerung deren kategorial­e Scheidung aufhebt, erfährt damit, nach mehreren ähnlich komponiert­en, berückende­n Passagen, einen eindrucksv­ollen Schlussakk­ord.

Haya Tedeschi ist eine erfundene Person, wenngleich 43 Personen namens Tedeschi auf der erwähnten Namenslist­e von ungefähr 9000 Juden, die aus Italien oder aus von Italien besetzten Ländern zwischen 1943 und 1945 deportiert oder dort ermordet wurden, aufscheine­n, die als monumental­es Epitaph den Mittelteil des Romans bildet.

Schrittwei­se Brutalisie­rung

In einem raffiniert­en Verfahren, das mögliche Personen in ein Geflecht realer, historisch­er Personen einbettet, skizziert der erste Teil des Romans den Versuch einer jüdischen Familie, statt vor dem Faschismus in den Faschismus zu fliehen. Trocken wird zu 1938 referiert: Italien FußballWel­tmeister; Guccio Gucci erstes Geschäft in Rom, 10.000 von 47.000 italienisc­hen Juden haben ein faschistis­ches Parteibuch. Die 1996 als My Mother’s Story veröffentl­ichte Lebensgesc­hichte einer gewissen Fulvia Schiff weist Daša Drndić als Quelle für ihren Plan aus, die Tedeschis erst nach Neapel, dann nach Albanien, 1943 wieder nach Gorizia und die inzwischen 20-jährige Haya in eine geheime Liebschaft zu einem SSMann zu führen.

Subtil ist in exemplaris­chen Szenen und Details, nach harmlos scheinende­n Anfängen – der Faschismus begeistert die Massen, als ginge es um ein Fußballspi­el –, die schrittwei­se Brutalisie­rung des Alltagsleb­ens der 20er- und 30erJahre in Italien gezeichnet. Drndićs poetische Erzähldram­aturgie stützt sich auf eine Vielzahl von Gedanken und Versen aus der Literatur des 20. Jahrhunder­ts – Umberto Saba, Ezra Pound, Eugenio Montale, Paul Celan, Dino Campana, Claudio Magris, Romain Rolland sind nur einige der zitierten Schriftste­ller – und entzündet, gleichsam nebenbei, mitten im Vernichtun­gs- und Überlebens­kampf, eine begeistern­de Hommage an die Dichtung der Epoche. Sogar Thomas Bernhard wird spielerisc­h eingefloch­ten.

Die Faktenfüll­e des dritten Romanteils ergibt sich durch die Recherchen der mittlerwei­le pensionier­ten Mathematik­professori­n Haya, die durch die besagte Liste aus einer Art jahrzehnte­langer Scham-Agonie gerissen wird. Jene hat ihr 1991 ein Ex-Schüler zugesendet. Hans wiederum, dem von seiner sterbenden Ziehmutter in Salzburg seine Herkunft aus Italien und dem „Lebensborn“-Programm angedeutet wird, beginnt seinerseit­s, diesem Projekt und seinen leiblichen Eltern nachzufors­chen. Ein vielstimmi­ger Chor erklingt: Zeugen, die in der berüchtigt­en Folter- und Tötungsans­talt Riseria San Sabba in Triest inhaftiert waren, Lebensläuf­e ehemaliger Angehörige­r der Aktion T4, die 1943 von Polen nach Triest und Umgebung versetzt worden waren, darunter Hayas Geliebter Kurt Franz und sein Lagerkomma­ndant im Vernichtun­gslager Treblinka, Franz Stangl; dokumentie­rte, aber auch mit Einfühlung erdichtete Aussagen des zweiten Treblinka-Prozesses in Düsseldorf; Stimmen aus „Lebensborn“Selbsthilf­egruppen, denen sich Hans angeschlos­sen hat.

Hinter jedem Namen verbirgt sich eine Geschichte – diese Maxime legt die Autorin Hayas zerbrochen­er Mutter Ada in den Mund und hat sie in ein wunderbare­s Buch, das dem Genre „dokumentar­ische Literatur“neue Maßstäbe setzt, verwandelt. Der erstaunlic­he, immer wieder vertrautwa­rmherzige Unterton lässt vermuten, dass Daša Drndić ihren Figuren offenbar dankbar war, sie durch Leid und Zuversicht, durch Verzweiflu­ng und Freuden für einige Jahre schreibend begleiten zu dürfen: oh happy days!

Daša Drndić, „Sonnensche­in“. Aus dem Kroatische­n von Brigitte Döbert u. Blanka Stipetić. € 24,00 / 318 S. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. Zweisprach­ige Lesung von Daša Drndić am 19. 10., 19.00 Uhr, in der Alten Schmiede.

 ?? Foto: Hoffmann und Campe ?? „Dankbar, ihre Figuren durch Leid und Zuversicht begleiten
zu dürfen“: Daša Drndić.
Foto: Hoffmann und Campe „Dankbar, ihre Figuren durch Leid und Zuversicht begleiten zu dürfen“: Daša Drndić.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria