Die Helden der Interdisziplinarität
Im Berner Bundeshaus wurden vier Wissenschafter mit den hochdotierten Balzan-Preisen geehrt
1956, als die Neutrinos entdeckt wurden, sei so gut wie jeder auf die Idee gekommen, dass man mit diesen kleinen Partikeln, die jede Materie problemlos durchdringen, eine neue Art von Astronomie begründen könnte, blickt Francis Halzen zurück. Heute, 60 Jahre später, ist der Astrophysiker dabei, diese Idee Realität werden zu lassen. Halzen baute mit seinem Team ein gigantisches Observatorium in der Antarktis. Tausende Sensoren wurden beim Projekt Icecube kilometertief in das ewige Eis versenkt.
2013 war es dann so weit. Halzen konnte die Entdeckung der ersten komischen Neutrinos vermelden, also Teilchen, die ihren Ursprung nicht in unserer Galaxie haben. Die schwer aufspürbaren Partikel könnten von explodierenden Sternen stammen, von Schwarzen Löchern oder von anderen extremen Ereignissen im Kosmos. Halzen ist nun dabei, den Ursprung der Teilchen aufzuspüren, um so dem All neue Erkenntnisse zu entlocken.
Für seine Leistungen wurde der 1944 in Belgien geborene Wissenschafter der University of Wisconsin-Madison nun mit dem mit umgerechnet rund 700.000 Euro dotierten Balzan-Preis ausgezeichnet. Die jährlich vergebene Auszeichnung der gleichnamigen Stiftung, beheimatet in Italien und der Schweiz, ist einer der höchstdotierten Wissenschaftspreise weltweit. Seit 2001 müssen die Preisträger die Hälfte des Preisgeldes für die Finanzierung von Forschungsprojekten verwenden.
Neben der Astroteilchenphysik zählten heuer Wirtschaftsgeschichte, die Geschichte der europäischen Kunst und Ozeanografie zu den Preisgebieten. Gerade die Interdisziplinarität als Imperativ für neue Erkenntnisse wurde in Bern, wo die vier Preise heuer vergeben wurden, immer wieder betont. Das gilt für Halzen, der sich als Astrophysiker in die Glaziologie stürzte, um sein monumentales Konstrukt im Eis zu rea- lisieren, wie auch für die anderen Laureaten: etwa für den im Jahr 1946 geborenen Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr von der Northwestern University in Illinois, der für die Erklärung des Aufbruchs Europas in die industrielle Revolution Geistes- und Technologiegeschichte zusammendachte und die Gründe für den Fortschritt im Denken der Aufklärung suchte; oder für den 1950 geborenen Ozeanografen David Michael Karl von der University of Hawaii, der die weitreichende Bedeutung von Mikroorganismen in den Meeren untersucht.
Als Erster hat er Unterwassergeysire, sogenannte hydrothermale Quellen, auf einer Tauchfahrt mit eigenen Augen gesehen und ebenfalls als einer der Ersten die Versauerung der Ozeane beschrieben sowie weitere wichtige Beiträge für die Rolle der Meere im Klimawandel erbracht. Und schließlich kann auch der 1935 geborene Kunsthistoriker Hans Belting, heute an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, die Überwindung des Tunnelblicks einer Disziplin für sich in Anspruch nehmen. Mit seiner folgenreichen Publikation der Kunstgeschichte? stellte er die Methoden der Disziplin infrage und wirkte maßgeblich an der Entwicklung der Bildwissenschaften mit; Belting ist auch in Wien kein Unbekannter: Von 2004 bis 2007 war er hier Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK).
Bei Ehrungen wie dieser im Schweizer Bundeshaus steht dann auch gleich der Wert der Wissenschaft auf existenzieller Ebene zur Debatte. „Die beste Zeit, auf diesem Planeten geboren zu werden, ist heute“, rief etwa Joel Mokyr in Erinnerung. Selbst die untere Mittelklasse lebe heute einen viel höheren Lebensstandard als die Päpste der Renaissance. Die Errungenschaften haben – siehe Klimawandel – aber auch ihren Preis. David Karl: „In einer komplexen, sich verändernden Welt brauchen wir mehr Wissenschafter.“