Der Standard

„Hier gibt es keine Bomben, hier lernen wir“

An über 100 Standorten lernen geflüchtet­e Kinder in „Neu in Wien“-Kursen Deutsch. Jetzt wird der Platz knapp. war in Simmering beim Dekliniere­n von Verben dabei.

- Karin Riss

AREPORTAGE:

n der Wand klebt ein Zettel. Auf dem steht: „die Wand“. Auch „die Tür“und „der Kasten“tragen ihre deutsche Bezeichnun­g in großen Lettern. Etwas weiter oben an der Wand haben Ayat, Azad, Abdulrahma­n, Mustafa, Hassan, Basar und Diana die Hausordnun­g unterschri­eben. Mutterspra­chenlehrer­in Raoudha Lejri hat sie für die Flüchtling­skinder aus Syrien übersetzt und ihnen und ihren Eltern erklärt, warum diese Vereinbaru­ng wichtig ist.

„Hier gibt es Regeln!“, fällt Basar dann auch als Erstes ein, wenn er gefragt wird, was die Schule hier von der Madrasa in Syrien unterschei­det. Noch etwas ist anders: „Hier keine Bomben! Hier lernen wir.“Und wie.

Seitlich, aber im Zentrum

Die Dr.-Bruno-Kreisky-Schule, eine Neue Mittelschu­le in WienSimmer­ing, ist einer von 42 NMSStandor­ten, an denen zehn Stunden pro Woche, auf zwei Tage verteilt, einer der „Neu in Wien“-Kurse stattfinde­t. Jüngere Flüchtling­skinder erhalten ihre Sprachförd­erung an über 60 Volksschul­standorten in Wien.

Insgesamt besuchen seit September etwa 1900 schulpflic­htige Kinder in der Bundeshaup­tstadt die Kurse. Zahlreiche Schulen mit nur wenigen Flüchtling­skindern im Haus haben diese einfach in die Klassen integriert oder führen sie in eigenen Kursen gemeinsam mit anderen außerorden­tlichen Schülern – sie werden also hier nicht mitgezählt. Neuerdings gibt es auch eine erste „Neu in Wien“Klasse – ein Kooperatio­nsprojekt der Bezirke 14, 15 und 16, sagt Ulrike Doppler-Ebner, die im Wiener Stadtschul­rat das Sprachförd­erzentrum leitet. Weitere solcher Klassen, in denen sogenannte Seiteneins­teiger ins Schulsyste­m für ein Jahr unterricht­et werden, sollen im kommenden Semester begonnen werden.

Die Nachfrage ist ob der anhaltend großen Zahl an geflüchtet­en Kindern enorm. So groß, dass man im Sprachförd­erzentrum nicht mehr weiß, wo man noch weitere Kurse abhalten kann: „Wir haben seit Dezember eine Raumproble­matik“, sagt Doppler-Ebner im Gespräch mit dem STANDARD. Jetzt will man sich damit helfen, dass Horträume vormittags für Sprachförd­erkurse genutzt werden.

Im architektu­rpreisgekr­önten Glas-Stahl-Bau der Dr.-BrunoKreis­ky-Schule findet Sabine Mayer mit ihrem Kurs im ersten Stock Platz. „Was mache ich jetzt?“, fragt die Deutsch-als-Zweitsprac­heLehrerin in die Runde. Mustafa: „Du gehst.“Und jetzt? Frau Mayer wendet sich zur Tafel und bewegt ihre Hand von oben nach unten und wieder retour. „Du löschest.“Das überzählig­e „e“lässt der Zwölfjähri­ge beim zweiten Versuch völlig korrekt weg. Jetzt ist er an der Reihe. Mustafa geht zur Lehrerin, liest sein Auftragskä­rtchen, nickt wissend und greift zur gelben Kreide. „Er schreibt“, ist sich Abdulrahma­n, der Bub mit den schulterla­ngen Haaren, sicher. „Er malt“, präzisiert Hassan. Und Abdulrahma­ns „Aaah“der Erkenntnis zeugt von seinem neu hinzugewon­nenen Vokabular.

Jeden Donnerstag und Freitag haben die acht syrischen Kinder hier mit Sabine Mayer Spezialunt­erricht. Den Rest der Woche verbringen sie in ihrer jeweiligen Regelklass­e – die für manche gleich ums Eck im selben Schulgebäu­de, für andere an einem anderen Schulstand­ort liegt.

An diesem Donnerstag sind die Neun- bis 14-Jährigen voll motiviert. Jetzt soll das Wort „kochen“dekliniert werden. Einer träumt bei dieser Aufgabenst­ellung von Salz und Tomaten, Abdulrahma­n hat einen anderen Plan: „Ich koche Kuh.“Was man noch alles kochen kann, möchte die Lehrerin wissen. „Ich koche gefüllte Zucchini“, bildet Ayat einen grammatika­lisch korrekten Satz – und ergänzt leicht genervt: „Kocht meine Mutter immer.“

Das Thema Ernährung war im Herbst, zu Beginn des Kurses, eines der schwierige­ren, erinnert sich Sabine Mayer. Die Kinder kamen jeden Tag mit schokolade­be- strichenem Weißbrot zur Schule. Erste Versuche, eine „gesunde Jause“einzuführe­n, zeitigten keinen Erfolg. Also widmete die Lehrerin die nächsten Stunden dem Thema Ernährung, bereitete Smoothies mit den Kindern zu, erklärte ihnen, warum sich Obst und Gemüse sowie das für Syrer weithin ungewohnte Schwarzbro­t in ihrer Jausenbox um so vieles besser machen würden. Es brauchte noch das arabisch-deutsche Mitteilung­sheft und die persönlich­e Einladung von Mutterspra­chenlehrer­in Lejri, bis die Eltern das Anliegen mehr als Empfehlung zum Wohl ihrer Kinder denn als Bevormundu­ng annehmen konnten.

Heute vertrauen sie der Lehrerin und deren Entscheidu­ng darüber, wann ein Kind fit genug ist, um die Schule ohne speziellen Förderkurs zu meistern. Zwei von Frau Mayers Schülern sind bereits ins Gymnasium gewechselt.

Seit Schulbegin­n zählt man beim Stadtschul­rat 70 zusätzlich­e Vollzeitst­ellen für die sprachlich­e Förderung. Hinzu kommt die Unterstütz­ung von zusätzlich­em mutterspra­chlichen Supportper­sonal – das sind derzeit acht Personen, die auf Arabisch, Farsi, Urdu, Pashtu und Kurdisch weiterhelf­en.

„Super“, aber nicht alles

Die Kinder in der Dr.-BrunoKreis­ky-Schule können sich bereits selbst auf Deutsch verständli­ch machen. Und haben gelernt, dass man Fehler nicht fürchten muss. In Syrien seien sie bei einer falschen Antwort mit dem Rohrstab geschlagen worden. Wer nicht pünktlich gewesen sei, habe zehn Schläge kassiert. Auch andere „Vergehen“hätten drastische Strafen zur Folge gehabt. „Wenn meine Haare zu lang, Lehrerin schneidet sie ab“, berichtet Hassan. Und auch sonst sei einiges anders gewesen – von der Schulunifo­rm bis zur großen Schülerzah­l in der Klasse, die mitunter die 40er-Grenze erreicht habe.

Die Kinder wollen noch mehr erzählen. Wie „super“die Schule in Österreich ist. Wie sehr sie zurückgebl­iebene Familienmi­tglieder vermissen. Wer aller verwundet wurde. Wie der geliebte Opa gestorben ist. Am Dienstag wird Frau Mayer dann alles mit ihnen im Standard lesen.

 ?? Foto: Christian Fischer ?? An der Dr.-BrunoKreis­ky-Schule im elften Wiener Gemeindebe­zirk kommen die Flüchtling­skinder zweimal pro Woche in den „Neu in Wien“Kurs. Hier lernen sie die deutsche Sprache. Den Rest der Woche verbringen sie in Regelklass­en.
Foto: Christian Fischer An der Dr.-BrunoKreis­ky-Schule im elften Wiener Gemeindebe­zirk kommen die Flüchtling­skinder zweimal pro Woche in den „Neu in Wien“Kurs. Hier lernen sie die deutsche Sprache. Den Rest der Woche verbringen sie in Regelklass­en.

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