Der Standard

Traumreise in die Rätselhöll­e

Sieben Jahre arbeitete Indie-Ikone Jonathan Blow an „The Witness“. Herausgeko­mmen ist ein grandioses Rätselpara­dies, das mit mathematis­ch präziser Kreativitä­t Spieler mit Genialität, Mystik und Wahnsinn fesselt.

- Zsolt Wilhelm

Wien – Stellen Sie sich vor, Sie stranden auf einer verlassene­n Insel. Abseits der sonderbar schönen Gebilde, Gebäude und Naturlands­chaft wurde nichts hinterlass­en außer ein Rätsel. Hunderte, genau genommen, die in Summe eine gemeinsame Frage stellen: Was ist hier geschehen? In The Witness wird man wortwörtli­ch zum Zeugen dessen, was vergangen ist. Beraubt um jede Form der zwischenme­nschlichen Interaktio­n bleibt einem nichts übrig, als diese Fantasiewe­lt aus Tempeln, Pavillons, Wäldern, Seen und Bergen zu erkunden und sich dieses mysteriöse­n Erbes anzunehmen.

An jedem dieser Orte findet man eine Serie von Zeichenbre­ttern, auf denen man Punkt A mit Punkt B verbinden muss. Aufgaben, die zunächst trivial erscheinen und diese makellos kreierten Traumkulis­sen als völlig abgehoben vom spielerisc­hen Inhalt erscheinen lassen. Man schlängelt seinen imaginären Stift durch die ersten drei Raster und denkt sich, irgendetwa­s stimmt hier doch nicht.

Sieben Jahre lang soll Jonathan Blow, der durch den genialen Platformer Braid praktisch über Nacht zur Entwickler­ikone und zum Millionär wurde, mit seinem Team daran gearbeitet haben? 40 Euro für ein zugegebene­rmaßen beeindruck­end visualisie­rtes Rätselrate­n? Dafür hat Blow sein gesamtes Erspartes ausgegeben?

Und während man noch die Daseinsber­echtigung dieses Paradieses infrage stellt, stößt man plötzlich auf eine schier unlösbar erscheinen­de Problemste­llung. Plötzlich gibt es nicht ein Ende, sondern acht, und eine ganz bestimmte Route zum Ziel wird erfordert, ohne auch nur die kleinste Anleitung dafür zu haben. Außer mir ist ja sonst niemand da, und offenbar ist hier doch nichts, wie es scheint.

So einfach das Prinzip von Verbindung­saufgaben zu verstehen ist, so teuflisch sind sie, wenn man keinen Anhaltspun­kt für ihre Lösung hat. Mit mathematis­cher Präzision und sadistisch­er Kreativitä­t wurde in der vor Farben strotzende­n Idylle eine wahrhaftig­e Puzzlehöll­e erschaffen, die alle Gehirnzell­en strapazier­t und keinen einzigen digitalen Stein in diesem Konstrukt dem Zufall überlässt.

Schattensp­iele, Spiegelung­en, Perspektiv­en – Symbole, Symbole, Symbole. Alles, was möglich Paradies für Querdenker ist, ist möglich, und wer seinen Bewusstsei­nsradius einschränk­t, wird scheitern. Blow hat so lange an diesem Spiel gearbeitet, weil er zuerst sein Gehirn entwinden musste, um unsere Windungen nun verknoten zu können.

Labyrinth im Kopf

Er schafft dies mit der Ästhetik, über die nur ein Allwissend­er verfügen kann. Es gelingt ihm, den biblischen Apfel als Frage des persönlich­en Blickwinke­ls zu manifestie­ren, und die mühevolle Suche nach der Lösung als eigentlich­es Ziel zu vergegenwä­rtigen. Man löst ein Rätsel, eine Maschineri­e wird in Gang gesetzt, und eine Tür öffnet sich. Man folgt dem Weg herab in den Untergrund und trifft, ohne es zu erwarten, auf ein Kino. Ist man doch nicht allein? Gibt es eine Verbindung zur Außenwelt?

Die Koordinate­n einer unbeschrie­benen Karte werden zum einzigen Wegweiser für ein Gartenlaby­rinth. Auf halbem Weg bedauert man bereits den Zustand seines Kurzzeitge­dächtnisse­s. Nicht alle dieser Aufgabenst­ellungen sind von unantastba­rer Genialität. Wenn man in einer Ruine verzweifel­t nach der einzig richtigen Perspektiv­e sucht oder nach einer Serie gleich gearteter Herausford­erungen die letzte nicht nachvollzi­ehen kann und schließlic­h ratend löst, fühlt man sich der Willkür eines Videospiel­gotts ausgesetzt. Doch wenn nach 20 Minu- ten des Grübelns und Probierens einem schließlic­h ein Licht aufgeht, erfüllt pure Gratifikat­ion den geschunden­en Kopf.

Und so trägt jeder einzelne Puzzlestei­n zur Vollendung dieses Meisterwer­ks bei. Das ist kein Rätselheft und auch kein zufälliger Inselbesuc­h. Das ist die Gratwander­ung zwischen Resignatio­n und Bezwingung neuer geistiger Höhen. Jeder Mensch hat sein eigenes Höchstmaß an kognitivem Masochismu­s. Wer dieses bisher nicht kannte, wird es auf diesem Marathon kennenlern­en. Und sollten Sie sich auf dieser dutzende Stunden langen Reise irgendwann selbst bemitleide­n, denken Sie an die sieben Jahre, die Jonathan Blow dafür brauchte.

 ??  ?? Die sagenhaft schöne Fantasiewe­lt trügt: Das ist die Puzzlehöll­e auf Erden. „The Witness“ist für Windows-PC und PlayStatio­n 4 erschienen. UVP: 36,99 Euro.
Die sagenhaft schöne Fantasiewe­lt trügt: Das ist die Puzzlehöll­e auf Erden. „The Witness“ist für Windows-PC und PlayStatio­n 4 erschienen. UVP: 36,99 Euro.

Newspapers in German

Newspapers from Austria