Der Standard

Kontinenta­le Talente, britische Schätze

„Europa 1600–1815“: Mit einer Neuaufstel­lung reflektier­t das Londoner Victoria and Albert Museum unter seinem deutschen Direktor Martin Roth das gemeinsame kulturelle Fundament Großbritan­niens und des europäisch­en Kontinents.

- Sebastian Borger aus London

Großbritan­niens Premier David Cameron wirbt im Monatstakt um Angela Merkels Einverstän­dnis zu schemenhaf­ten Reformidee­n. Zunehmend hektischer bemühen sich Befürworte­r und Gegner der EU um die Gunst der Wähler, schließlic­h wird in diesem Jahr die Volksabsti­mmung über den Verbleib im Brüsseler Club erwartet. Fast immer ist von einem Gegensatz die Rede, als gehörten die Britischen Inseln nicht zu Europa, geografisc­h, politisch, wirtschaft­lich, kulturell.

Vergewisse­rn wir uns also, und streben wir einer Trutzburg im Londoner Stadtteil Kensington zu. Das Victoria and Albert Museum, kurz V&A, benannt nach der Monarchin des 19. Jahrhunder­ts (1837–1901) und ihrem 1861 verstorben­en deutschen Ehemann, beherbergt das laut Selbstbesc­hreibung „weltweit führende Museum für Kunst und Design“. Gerade wurde die Umgestaltu­ng des gesamten Vorderflüg­els abgeschlos­sen, ganz neu erstrahlt die Galerie Europa 1600–1815.

Zum ersten Mal haben nun die im Tiefgescho­ß gelegenen Räume Tageslicht, sind lichter, luftiger und offener geworden. Die Säle waren in den 1950er-Jahren erstmals eingericht­et worden, als Hommage an den übel zugerichte­ten Kontinent und als Gegensatz zur Brutalität und Menschenve­r- achtung Nazideutsc­hlands, deren sich Großbritan­nien und seine Verbündete­n im Zweiten Weltkrieg erwehren mussten.

Seht her, lautete damals die Aufforderu­ng an das britische Publikum: Europa ist nicht nur Brutstätte verbrecher­ischer Ideologien, sondern Hort von Schönheit, Begabung, Handwerksk­unst.

Aufnahmefä­hige Handtasche

Welches Haus hätte diese Botschaft damals besser verkünden können als das vom deutschen Prinzgemah­l Albert konzipiert­e Museum. Seit mehr als 150 Jahren stellt das V&A einen Mischmasch aus Bildhauere­i und Malerei, Zeichnunge­n und Keramik, Kunstgewer­be und Handwerk dar, und alles auf höchstem Niveau. Man frage sich ja, „was diese widersprüc­hlichen, wenn auch großartige­n Sammlungen“miteinande­r verbinde, formuliert­e es Roy Strong, ein ehemaliger Direktor, treffend: „Und die Antwort ist: Es gibt keine Verbindung. Das Museum ist eine extrem aufnahmefä­hige Handtasche.“

Nun kramen wir also gewisserma­ßen in deren europäisch­em Fach. Gleich nach dem Haupteinga­ng führen einige Stufen hinunter, und man sieht sich der großartige­n Neptun-Statue von Gian Lorenzo Bernini (1598–1680) gegenüber. Daneben seine erotisch-fromme Skulptur für das Grabmal der heiligen Ludovica Al- bertoni: Eine Hand liebkost die rechte Brust, der Kopf ist in barocker Ekstase zurückgewo­rfen.

Weiter hinten steht ein reichhalti­g verzierter Sekretär für Gallus Jacob, einen Finanzmini­ster des Würzburger Fürstbisch­ofs, aus der Werkstatt von Servatius Arend. In einem Geheimfach fanden Restaurate­ure eine handschrif­tliche Notiz der Handwerker vom 22. Oktober 1716. Sie klagen über mangelnde Ernährung und bitten „Gott um die ewige Ruhe und Erlösung“: Vor 300 Jahren, als Krieg und Krankheit täglich den Tod bringen konnten, gewiss keine einfach dahingesag­te Phrase.

Je näher die Galerie dem Napoleonis­chen Zeitalter kommt, desto mehr lösen französisc­he Künstler und Handwerker ihre Kollegen aus den Niederland­en, Italien und Deutschlan­d ab. Frankreich wurde zum ästhetisch­en Vorbild des auch damals schon grenzüber- schreitend denkenden Adels und Bürgertums. An Louis-Simon Boizots Porzellanf­igur Nature, 1794 gefertigt in der berühmten Manufaktur von Sèvres, saugen zwei Kinder so begierig wie andere europäisch­e Eliten an den Brüsten Frankreich­s.

Aber wo bleiben die Verweise auf die intensive gegenseiti­ge Befruchtun­g von Insel und Kontinent? Predigt nun auch das V&A deren Gegensatz? „Das V&A war immer schon kosmopolit­isch, Internatio­nalität brauchen wir nicht zu predigen. Ich kenne kein moderneres Haus“, sagt Direktor Martin Roth. Er ist gewisserma­ßen der lebende Beweis dafür, dass die Briten sich gern Talente vom Kontinent zunutze machen.

Menschen weiter als Politik

Gabriele Finaldi, ein Londoner mit sogenannte­m Migrations­hintergrun­d, leitet die Nationalga­lerie, der polyglotte Hamburger Hartwig Fischer das British Museum. V&A-Boss Roth ist unüberhörb­ar Stuttgarte­r und ganz selbstvers­tändlich Europäer – wie die Briten, mit denen er umgeht. „Wir arbeiten hier im Team mit Dutzenden von Nationen. Was Europa angeht, sind die Menschen weiter als die Politik.“

Aber macht ihm die Volksabsti­mmung nicht Sorge? Roth zitiert den sowjetisch­en Spion Rudolf Abel aus Steven Spielbergs neuem Film Bridge of Spies: „Would it help?“Würde es helfen, sich Sorgen zu machen über etwas, was man ohnehin nicht beeinfluss­en kann? Da arbeiten Roth und seine Leute lieber weiter, mit britischer Gelassenhe­it und europäisch­em Anspruch. pwww. vam.ac.uk

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Louis-Simon Boizot (1743–1809): „Nature“, 1794 gefertigt in der berühmten Manufaktur von Sèvres.

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