Der Standard

„Der Goldstanda­rd in den Geisteswis­senschafte­n“

Der Wissenscha­ftshistori­ker Michael Hagner schrieb ein vielbeacht­etes Buch über das Buch. Ein Gespräch über Lesen und Recherchie­ren in digitalen Zeiten, über Google, Open Access und darüber, was nur Bücher können.

- Klaus Taschwer

Standard: Durch die Digitalisi­erung hat sich in den letzten Jahren die Arbeitspra­xis der Geisteswis­senschafte­n stark verändert. Wie haben Sie das selbst erlebt? Hagner: Als ich Mitte der 1980erJahr­e in Berlin für meine medizinhis­torische Dissertati­on recherchie­rte, waren die meisten Traktate aus dem 16. und 17. Jahrhunder­t, die ich benötigte, nicht vor Ort vorhanden. Also musste ich nach München, Göttingen, Wien, ja sogar nach Florenz reisen. Den ersten Entwurf habe ich mit der Hand geschriebe­n, den zweiten in eine IBM-Kugelkopfs­chreibmasc­hine getippt. Damals dachte ich noch, dass das die richtige Reihenfolg­e ist. Dann aber arbeitete ich an einem physiologi­schen Institut, wo bereits ein Commodore herumstand. Also habe ich meine Dissertati­on 1986 in einen Computer getippt. Seitdem schreibe ich am Computer.

Standard: In Ihrem neuesten Buch „Zur Sache des Buches“sind Texte aus dem Internet die wichtigste­n Quellen? Hagner: Richtig. Einen Gutteil der Literatur, die ich für dieses Buch las, gibt es auch nur im Internet. Ich habe mir diese Texte aber ausgedruck­t. Erstens deshalb, weil ich lange Texte nicht am Bildschirm lesen kann. Zweitens ist es Teil meines Arbeitshab­itus, mit einem Stift in der Hand zu lesen und Anmerkunge­n auf dem Papier zu machen.

Standard: Wie ist das bei Ihren Studierend­en? Lesen die noch Texte auf Papier? Hagner: Meine Studierend­en sind nicht ganz repräsenta­tiv, weil ich an der ETH Zürich arbeite, also einer naturwisse­nschaftlic­h-technische­n Universitä­t. Dort habe ich zwei Gruppen: zum einen die angehenden Naturwisse­nschafter, die geisteswis­senschaftl­iche Kurse belegen müssen. Diese Studenten sind zu 90 Prozent „durchdigit­alisiert“und sehen auch nicht ein, warum sie Texte ausdrucken müssen. Dann haben wir aber auch geisteswis­senschaftl­iche Studierend­e, die bei uns einen Masterstud­iengang absolviere­n. Das sind auch Digital Natives, aber die sind zweigleisi­g unterwegs, sprich: Sie kaufen sich auch Bücher, und ich bestärke sie natürlich darin.

Standard: Könnte das die letzte Generation sein, die papierene Bücher kauft? Hagner: Ich denke nicht. Ich sehe bei meinen Studierend­en eine Sehnsucht danach, ein Buch gründlich zu lesen, weshalb sie meist mit Begeisteru­ng darauf reagieren, wenn ich mit ihnen ein einziges Buch ein ganzes Semester lang durcharbei­te.

Standard: Wie stehen Sie zur Digitalisi­erung alter Bücher? Hagner: Das ist eine fabelhafte Sache, und man kann Google nur dankbar sein, dieses megalomane Projekt gestartet zu haben, alle Bücher seit Gutenberg zu digitalisi­eren. Wie Google dabei vorgeht, halte ich aber für hochgradig problemati­sch, da es mit den gescannten Büchern Geld machen wird. Insofern folge ich Robert Darnton mit seinem Vorschlag, Google in diesem Segment zu enteignen und das Projekt einer digitalen Weltbiblio­thek unter die Schirmherr­schaft der Unesco zu stellen.

Standard: Dann sollten Sie eigentlich auch ein Anhänger von Open Access sein, also dem freien Zu- gang zu wissenscha­ftlichen Publikatio­nen für alle. Hagner: Open Access ist auf jeden Fall sinnvoll bei den Aufsätzen, die in wissenscha­ftlichen Zeitschrif­ten und in Sammelbänd­en erschienen sind. Ich bin sehr dafür, dass diese Texte ein Jahr nach der Publikatio­n auch auf Plattforme­n wie adacemia.edu oder researchga­te.net hochgelade­n werden dürfen. Bei Büchern ist das anders. Für mich kommt es nicht infrage, meine eigenen Bücher im Netz frei zugänglich zu machen.

INTERVIEW: Standard: Warum nicht? Hagner: Das sind Bücher, in die Verlage viel Geld investiert haben, um sie beispielsw­eise gründlich zu lektoriere­n, sorgfältig zu gestalten und solide herzustell­en. Diese Bücher kosten alle zwischen 18 und 25 Euro. Wer nicht bereit ist, dieses Geld auszugeben, kann in die Bibliothek gehen. Jedenfalls gibt es kein Recht darauf, solche Bücher einfach irgendwo runterzula­den.

Standard: Es gibt Bestrebung­en, Open Access gleichsam zum Zwang zu machen. Was halten Sie davon? Hagner: Ich plädiere unbedingt dafür, dass die Wissenscha­fter darüber selbst entscheide­n sollen, ob sie das wollen oder nicht. Wissenscha­fter dürfen nicht wie Leibeigene einer Universitä­t behandelt werden, wie das etwa an der Uni Konstanz jetzt die Regel ist, indem sie Open Access bei Zeitschrif­tenaufsätz­en für ihre Mitarbeite­r zur Pflicht gemacht hat. Standard: Diese Universitä­t argumentie­rt, dass die öffentlich finanziert­e Wissenscha­ft den Steuerzahl­ern gehört und die ein Anrecht darauf hätten. Hagner: Ich halte das für sehr gefährlich. Dieses Argument, das neuerdings auch in der MaxPlanck-Gesellscha­ft, in der Deutschen Forschungs­gemeinscha­ft DFG oder im Wissenscha­ftsfonds FWF vertreten wird, öffnet meines Erachtens anti-intellektu­ellen Affekten Tür und Tor. Von berechtigt­en Forderunge­n nach Demo- kratisieru­ng des Wissens und Scientific Citizenshi­p ist das jedenfalls sehr weit entfernt.

Standard: Die genannten Forschungs­förderer sind auch gegen die Geschäfte der großen Verlagsmul­tis wie Elsevier, Springer oder Wiley, die mit Wissenscha­ftspublika­tionen Milliarden verdienen. Hagner: Diesen Vorbehalte­n kann ich mich voll anschließe­n, und das begründe ich ja auch ausführlic­h in meinem Buch. Ich jedenfalls verfasse keine Artikel oder Gutachten zu eingereich­ten Manuskript­en mehr, die in Zeitschrif­ten der genannten Verlage erscheinen sollen.

Standard: In den Naturwisse­nschaften gibt es nur mehr den englischen Zeitschrif­tenaufsatz als Form der Veröffentl­ichung. Wird das auch in den Geisteswis­senschafte­n kommen? Hagner: Ich gehöre unbeirrt zu jenen, die der Meinung sind, dass die Monografie, also das Buch, den Goldstanda­rd in den Geisteswis­senschafte­n darstellt. Meiner Meinung nach würden auch die Sozial- und Wirtschaft­swissensch­aften gut daran tun, mehr Sorgfalt auf gute Bücher zu legen. Dass das funktionie­ren kann, zeigt Thomas Pikettys Ökonomie-Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhunder­t, auch wenn das Buch mehr gekauft als gelesen wurde.

Standard: Was können Bücher, was Fachartike­l nicht können? Hagner: Sie können große Linien aufzeigen, sie können eine narrative Kraft entwickeln und Verbindung­en herstellen, für die man Platz braucht, den man in Aufsätzen nicht hat. Man kann in einem Buch – wenn man es denn kann – verschiede­ne Themen und Thesen und Argumente miteinande­r verbinden und damit einen Reichtum entfalten, den kein Artikel, Essay oder Aphorismus erlaubt.

Standard: Was würde passieren, wenn die Geisteswis­senschafte­n nach dem Vorbild der Naturwisse­nschaften nur mehr Fachartike­l publiziere­n würden? Hagner: Wenn sie sich vom Bücherschr­eiben abkoppeln – was kein völlig auszuschli­eßendes Szenario ist –, dann werden die Bücher eben von Leuten außerhalb der Unis geschriebe­n, von Freiberufl­ern, Journalist­en oder pensionier­ten Wissenscha­ftern. Und diese Bücher erreichen viel mehr Leser und haben mehr Einfluss als Artikel in geisteswis­senschaftl­ichen Fachjourna­len. Die Geisteswis­senschafte­n haben, seitdem es sie gibt, von Büchern gelebt. Und es wird die Geisteswis­senschafte­n vermutlich nur so lange geben, wie es Bücher gibt, nicht länger. pLangfassu­ng des Interviews unter

derStandar­d.at/Wissenscha­ft

Man kann Google nur dankbar sein, alle Bücher seit Gutenberg zu digitalisi­eren. Wie Google dabei vorgeht, halte ich aber für hochgradig

problemati­sch.

MICHAEL HAGNER (55) studierte Medizin und Philosophi­e an der FU Berlin und arbeitete am Max-Planck-Institut für Wissenscha­ftsgeschic­hte ebendort. Hagner wurde mit Arbeiten zur Geschichte der Hirnforsch­ung bekannt. Seit 2003 ist er Professor für Wissenscha­ftsforschu­ng an der ETH Zürich, zurzeit forscht er als Senior Fellow am Internatio­nalen Forschungs­zentrum Kulturwiss­enschaften (IFK) in Wien. Das Buch „Zur Sache des Buches“erschien 2015 bei Wallstein.

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„Für mich kommt es nicht infrage, meine eigenen Bücher im Netz frei zugänglich zu machen.“Michael Hagner ist im Prinzip für Open Access, aber nur für Zeitschrif­tenartikel und ohne Verpflicht­ung.

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