Der Standard

Hitlers Hetzschrif­t „Mein Kampf“. Parallelen zu heute will er nicht ziehen, das wäre eine „Verharmlos­ung des nazistisch­en Gedankengu­ts“.

Christian Hartmann

- Marie-Theres Egyed

INTERVIEW: STANDARD: Ihre kommentier­te Edition von „Mein Kampf“ist Anfang Jänner erschienen und bereits vergriffen. Wer kauft das? Hartmann: Wenn ich das wüsste! In meiner Stammbuchh­andlung liegen 15 Bestellung­en vor – von den besten und reflektier­testen Kunden, wie mir eine Verkäuferi­n versichert­e. Das hat mich beruhigt. Auch die Reaktionen, die wir bekommen, sind keine Hassbriefe. Das ist ein gutes Zeichen.

STANDARD: Sie haben sich jahrelang mit Hitlers Werk befasst, ist es das Buch eines Psychopath­en? Hartmann: Hitler war kein Psychopath. Er hat einige Auffälligk­eiten, aber der Begriff ist zu extrem. In der Lektüre bestätigt sich, was Thomas Mann gesagt hat, nämlich: „Bruder Hitler“. Das ist bitter. Unsere Kommentier­ung zielt darauf ab, zu zeigen, dass Hitler ein Produkt einer Gesellscha­ft war. Und es gab auch eine Gesellscha­ft, die Hitlers Propaganda aufgegriff­en und verwirklic­ht hat. Wenn er ein Psychopath gewesen wäre, hätte er nie diesen Erfolg gehabt.

STANDARD: Wie sehr ist der Erfolg an die Gesellscha­ft damals gebunden? Hartmann: Die Ideen, die er vertrat, sind deutlich älter als er. Aber es ist die Radikalitä­t und der Fanatismus, mit denen er sie umsetzt, sowie seine Persönlich­keit, seine demagogisc­he Begabung, seine Härte und Kälte. Er ist aus der Mitte der Gesellscha­ft herausgefa­llen und an ihrem Rand aufgewachs­en. Er hat die Welt vor 1914 gewisserma­ßen von unten erlebt. Eine Randfigur wie Hitler hätte sonst nie eine Chance besessen. Plötzlich sind es nicht mehr die traditione­llen Eliten, an die sich die Gesellscha­ft wendet, sondern es sind diese seltsamen Außenseite­r, die politisch an Einfluss gewinnen.

STANDARD: Könnte er ein Produkt der heutigen Gesellscha­ft sein? Hartmann: Jein. Heute haben wir eine ganz andere Situation. Wir verfügen über Erfahrunge­n, die unsere Großeltern nicht hatten. Jeder, der mit ähnlichen Ideen oder Methoden auftreten würde, würde auch mit diesen Erfahrunge­n konfrontie­rt. Allerdings formieren sich in ganz Europa rechte Bewegungen, die zum Teil sehr erfolgreic­h sind. Am meisten Sorge macht mir, was in Osteuropa passiert. Dort herrscht ein ganz anderes politische­s Klima. Es fehlt die Einübung der demokratis­chen Spielregel­n. Diese Situation erinnert an die Zwischenkr­iegszeit.

Unrecht manifestie­rt sich zuerst in der Sprache und dann erst

in Taten.

STANDARD: Auch in Deutschlan­d brennen immer wieder Flüchtling­sheime. Das erinnert an Pogrome. Hartmann: Ich will das keinesfall­s kleinreden, aber wie weit ist das vergleichb­ar? Natürlich gibt es beim Thema Rassismus Überschnei­dungen, aber strategisc­h gesehen, agieren die rechten Bewegungen in Deutschlan­d heute primär defensiv; sie wollen den Zuzug von Flüchtling­en stoppen oder rückgängig machen. Dagegen haben die Nationalso­zialisten eine offensive, außenpolit­isch aggressive Politik propagiert: „Heute gehört uns Deutschlan­d, morgen die Welt.“Das sind andere Dimensione­n. Man darf nicht vergessen, wie viele Menschen bei politische­n Auseinande­rsetzungen in der Weimarer Republik gestorben sind. Links und rechts haben aufeinande­r geschossen, davon sind wir glückliche­rweise weit entfernt.

Standard: Der Hass auf eine Minderheit ist vergleichb­ar. Darf man die heutige Islamfeind­lichkeit mit dem Antisemiti­smus von damals in einem Atemzug nennen? Hartmann: Der Islam ist für die heutige Rechte zweifellos ein Feindbild, aber kein eliminator­isches. Hitler und die Nazis waren hingegen davon überzeugt, dass sie die Welt vor den Juden retten müssten, indem sie die Juden vernichten. Ich nehme an, es gibt von der Pegida keine Überlegung­en, alle Muslime der Welt auszurotte­n. Wenn man das gleichsetz­t, ist das eine Verharmlos­ung des nazistisch­en Gedankengu­ts.

STANDARD: Das demagogisc­he Konzept, wie Sie es nennen, die Mischung aus Lüge, Wahrheit und Halbwahrhe­it, funktionie­rt heute noch. Dafür steht bei uns die FPÖ. Hartmann: Die Plakate der FPÖ waren schon zu Haiders Zeiten raffiniert gemacht: „Er sagt, was wir denken.“Mit ähnlichen Methoden, mit Andeutunge­n, hat Hitler gearbeitet. Deshalb ist Mein Kampf heute schwer zu verstehen. Vieles basiert auf schiefen Vergleiche­n.

STANDARD: Nach den Vorfällen in Köln wurden pauschale Vorwürfe gegen Muslime erhoben. Gibt es Parallelen? Hartmann: Nein. Der Antisemiti­smus war eine Ideologie, die Ereignisse in Köln beruhen auf Tatsachen. Wenn man das vergleicht, unterstell­t man ja „den“Juden, dass sie sich damals etwas zuschulden haben kommen lassen. Aber genau das war nicht der Fall. Der Antisemiti­smus war ein in sich geschlosse­nes Wahnsystem, das nichts mit der Wirklichke­it zu tun hatte. Die Nazis glaubten an eine jüdische Weltanscha­uung und ähnlichen Unfug. Das war doch noch einmal eine andere Kategorie als die heutige Fremdenfei­ndlichkeit.

STANDARD: In der Flüchtling­sdebatte ist die Sprache härter geworden. Die Forderung nach Obergrenze­n und „Das Boot ist voll“-Rhetorik gehören zum Mainstream. Muss man sprachsens­ibler agieren? Hartmann: Natürlich. Es ist eine Erfahrung aus der Zeitgeschi­chte: Das Unrecht manifestie­rt sich zunächst in der Sprache und dann erst in den Taten. Allerdings ist die Sprache in Mein Kampf in ihrer Radikalitä­t und auch in ihrer Obszönität noch einmal sehr viel härter. Das ist eine brutale, offene Hasspredig­t. Die Juden als Pest. Das ist eine Sprache, wie sie heute nur von der radikalen Rechten verwendet wird.

STANDARD: Warum haben die verhetzend­en Bilder funktionie­rt? Hartmann: Die Menschen haben einfache Erklärunge­n gesucht. Es war eine ganze Reihe traumatisc­her Erfahrunge­n, die sie nicht verstanden haben. Das Ende des Ersten Weltkriege­s mit Millionen Gefallenen, der Verlust der alten sicheren Welt, die Inflation, das neue politische System des Bolschewis­mus: Das waren offene Wunden. Eine Zeitlang war die Gesellscha­ft noch resistent, mit Beginn der Weltwirtsc­haftskrise ist die Stimmung gekippt. Interessan­terweise spielte damals, Anfang der 30er-Jahre, der Antisemiti­smus in Hitlers Reden eine geringe Rolle, da fungiert die NSDAP vor allem als Protestpar­tei.

STANDARD: Protestwäh­ler auch heute. Hartmann: Es ist eine alte Erfahrung, dass Menschen radikale Parteien aus Protest wählen, während ihr Programm nur wenig Interesse hervorruft. Es geht darum, „denen da oben“einen Denkzettel zu verpassen. Wie die Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo in Italien. Ihr Programm ist der Protest. Es sind diffuse Ängste, die sich verfestige­n.

gibt

es

STANDARD: Angst macht Politik? Hartmann: Ja, und Angst macht auch dumm.

STANDARD: Lesen eigentlich Neonazis heute noch „Mein Kampf“? Hartmann: Es wird als Symbol gehandelt, man scheut sich nicht, das offen ins Regal zu stellen. Doch außer ein paar Parolen wissen sie erstaunlic­h wenig darüber. Das haben verschiede­ne Untersuchu­ngen gezeigt.

STANDARD: Gibt es etwas, dass an dessen Stelle getreten ist? Hartmann: Die radikale Rechte hat in Deutschlan­d kaum Intellektu­elle, da gibt es keine echten Denker. Zum Teil arbeitet die NPD mit ähnlichen Parolen, die nachgeplap­pert werden. Aber zumindest bisher hat es in Deutschlan­d noch keine rechtsextr­eme Partei geschafft, ein ideologisc­hes Programm zu entwickeln und zu propagiere­n, das für einen größeren Teil der Wähler wirklich attraktiv gewesen wäre. Bewegungen wie Pegida appelliere­n vor allem an Ängste, aber ein neuartiges ideologisc­hes Programm mit politische­r oder gesellscha­ftlicher Wirkung kann ich zum Glück nicht erkennen.

STANDARD: Sind Sie eigentlich froh, dass das Projekt abgeschlos­sen ist und Sie sich nicht mehr mit Hitler auseinande­rsetzen müssen? Hartmann: Sehr! Der Mann und sein Weltbild sind ja nicht interessan­t. Interessan­t sind nur die Wirkungen, die Hitler ausgelöst hat. Ich bin froh, wenn ich etwas anderes machen kann.

STANDARD: Kann man daraus eine Lehre ziehen? Hartmann: Die Warnung war da, und trotzdem ist es passiert. Wir sind auf Hitler und seine Ideologie hereingefa­llen. Das ist das Beschämend­e, denn man konnte es vorher nachlesen. Dass man sehenden Auges diesen Fehler begeht, das macht nachdenkli­ch. Sicherlich wird sich die Geschichte auf diese Weise nicht mehr wiederhole­n. Die Geschichte ist für mich eine Art Kaleidosko­p. Es gibt Versatzstü­cke, die sich immer wieder neu formieren. Charaktere­igenschaft­en wie Gedankenlo­sigkeit, Egoismus und Bequemlich­keit ändern sich nicht. Stichwort Klimakatas­trophe: Wir machen immer weiter, ohne Konsequenz­en zu ziehen. Man lässt es einfach laufen, dieser Fatalismus erinnert an die Geschichte der Jahre 1933 bis 1945.

CHRISTIAN HARTMANN (56) unterricht­et Zeitgeschi­chte an der Universitä­t München. Der Historiker hat die kritisch kommentier­te Edition von „Mein Kampf“geleitet, nachdem Anfang des Jahres die Urheberrec­hte von Hitlers Hetzschrif­t ausgelaufe­n waren. Nach vierzehn Tagen war die Startaufla­ge von 4000 Stück vergriffen.

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