„Das Gewaltpotenzial ist in vielen, vielen Menschen drin“
Regisseurin Andrea Breth inszeniert am Wiener Akademietheater das für sie untypische Kriminalstück „Diese Geschichte von Ihnen“(Premiere morgen, Donnerstag). Ein Gespräch über Mord und Totschlag.
INTERVIEW:
STANDARD: John Hopkins’ Stück wirft die Frage nach der Gewalt in unserer Gesellschaft auf. Wir sehen uns aktuell von innen und außen mit ihr konfrontiert. Haben wir uns allzu lange in dem Irrglauben gewiegt, wir könnten Gewalt rationalisieren und unwirksam machen? Breth: Ich halte das für im Prinzip richtig. Ich habe mir lange darüber Gedanken gemacht, was es heißt zu sagen: Ich bin Pazifist. Ich würde nicht sagen, dass ich pazifistisch bin. Nehmen wir einmal an, es wird auf die eigene Mutter losgegangen. Es herrscht Bürgerkrieg, die unmittelbaren Nachbarn verwandeln sich in Feinde, und plötzlich ist alles erlaubt. Jemand kommt auf die Idee, die Schwester von einem zu vergewaltigen. In einem solchen Fall wäre ich kein Pazifist. Und ich weiß auch, dass ich einen unendlichen Hass entwickle auf Kinderschändung. Und, so unangenehm es klingt: Ich weiß, dass ich dann über die Todesstrafe nachdenke. Kinderschändung ist für mich das schlimmste Verbrechen, genauso wie die Gewaltausübung gegen alte Menschen.
STANDARD: Sie meinen alle Fälle, die Wehrlosigkeit implizieren? Breth: Wo Hilflosigkeit vorliegt oder Unschuld, etwa bei Kindern. Diese Gewalt ist in einem unglaublichen Ausmaß vorhanden. Aber man muss auch nicht über die Jetztzeit reden. Manches Mal kommt die Gewalt von außen, wie die von diesem IS-Staat ausgeübte. Diese euphorische Rückkehr ins Mittelalter ist unerträglich. Die hat freilich andere Gründe. Aber es reicht schon aus, was bei uns in den Internaten passiert. Die müssen nicht einmal katholisch sein. Die deutsche Odenwald-Schule war alles andere als katholisch.
STANDARD: Sie meinen das Erziehungswesen überhaupt? Breth: Man muss bedenken, welche Schäden die einschlägigen Fälle hinterlassen haben. Entweder wurde den Kindern kein Glauben geschenkt, oder sie haben sich nicht getraut, etwas zu erzählen. Es sind welche dabei, die können nie mehr wieder in eine normale Beziehung eintreten. Das Gewaltpotenzial ist offenbar in vielen, vielen Menschen drin. Denken Sie an die Kinderpornografie.
STANDARD: Mit Dunkelziffern. Breth: Oder Kinder werden gestohlen. Es hört und hört nicht auf. Oder die Gewalt, die in den Familien ausgeübt wird. Am schlimmsten ist übrigens die Zeit rund um Weihnachten. Die gefährlichsten Tage im Jahr!
ihren
eminenten
STANDARD: Damit sind wir auch bei dem Stück „Diese Geschichte von Ihnen“. Breth: In die Hauptfigur, den ermittelnden Polizisten (Nicholas Ofczarek), kommt etwas hinein, das mit dem Täter-Sein verschmilzt. Das ist das Tolle an dem Stück von John Hopkins. Schade, dass es, entstanden 1968, überhaupt nicht mehr gespielt wird. Ich habe es übrigens in einer wunderbaren Inszenierung von Peter Palitzsch kennengelernt. Das ist unendlich lange her. Mit dem jungen Traugott Buhre in Stuttgart.
STANDARD: Hat es, mit Blick auf das Theater, nicht eine Selbstbeschränkung in der Darstellung von Gewalt gegeben? Traut man deshalb auch den „großen“Stücken nicht mehr über den Weg? Kleists „Penthesilea“erscheint, hinsichtlich der darin zur Darstellung gelangenden Gewalt, als unspielbar. Breth: Das gilt auch für Shakespeare.
STANDARD: Kann man den nicht sehr viel leichter ironisieren? Breth: In der Zeit Shakespeares, als seine Stücke zur Uraufführung gelangten, waren seine Dramen gewiss schockierend. Jetzt, durch den Abstand, den Sprache und Ästhetik herstellen, berührt das die Menschen nicht mehr so sehr. Als ich am Akademietheater Motortown inszeniert habe, habe ich sehr interessante Post bekommen. Menschen, die zum Beispiel den Beruf eines Psychotherapeuten ausüben, haben mir irrsinnige Vorwürfe gemacht, dass ich eine solche Gewalt auf der Bühne zeige. Das seien sie von mir nicht gewöhnt! Wobei das im Akademietheater noch sehr viel unmittelbarer wirkt. Es gab eine Szene mit einem Schuss, an dem wir lange gearbeitet haben, im vollen Bewusstsein und mit Zustimmung des Autors. Ein heftiger Durch- schuss. Ich schrieb damals zurück, weshalb sie sich nicht so bestürzt zeigen würden, wenn es sich um ein Stück von Shakespeare gehandelt hätte?
STANDARD: Ihre Antwort lautete? Breth: Weil es weit weg ist. Aber das Faktum bleibt ja dasselbe. Es wird gemordet und gemordet und gemordet. Hier, bei Hopkins, wird man entlassen, indem der Zu- schauer dazu aufgefordert wird, darüber nachzudenken. Und es handelt sich eben um keinen „Tatort“, in dem die Tat aufgelöst wird, nur um die Gemüter zu beruhigen.
STANDARD: Keine Patience, die aufgeht? Breth: Das Stück scheint ein Krimi zu sein, und es ist zugleich sehr viel mehr als das. Sonst müsste man es ja nicht machen. Das nahezu Filmische, Hyperrealistische – Hopkins war erfolgreicher Drehbuchautor – bürgt für Verlässlichkeit. Man muss da nichts „retten“, sondern ganz einfach machen, was der Autor will. Eine große Herausforderung, weil Gewalt im Film sehr viel leichter darzustellen ist. Und da meint man immer, man kennt so die Tricks. Wie es geht, oder wie es nicht geht. Oder es werden Tonnen von Ochsenblut ausgeleert. Das will man ja nun wirklich nicht sehen.
STANDARD: Weigern wir uns womöglich nur, uns die Faszination durch Gewalt einzugestehen? Breth: Wir tun so, als läge das alles tausend Jahre zurück. Aber in unserer unmittelbaren Nähe passieren die schlimmsten Dinge. Es gibt den Einsatz der Deutschen Bundeswehr. Junge Menschen, Soldaten, werden mit Drogen vollgepumpt und in den Irrsinn geschickt. Dann kehren sie in die Heimat zurück, empfinden keinen Schutz mehr und sind plötzlich „Schweine“. Sie werden aber zu Schweinen erzogen. Ich glaube, es passiert ein Rausch. Oder die Verführung, womit sich Michael Haneke in Benny’s Video beschäftigt hat. Was passiert mit Kindern, die sich ununterbrochen gewaltverherrlichende Filme angucken? Ein Kälteanzug wird angepasst. Wenn alles normal ist, gibt es auch keine Hemmschwelle mehr.
ANDREA BRETH (63) stammt aus Darmstadt. Die Regisseurin arbeitet seit 1990 an der Burg. Ihre Domäne ist die geduldige Erkundung von Figuren und Stoffen.