Der Standard

Er ist nicht der Arzt, er ist der Schmerz

John Cale hat mit 73 Jahren sein depressive­s Meisterwer­k „Music for a New Society“von 1982 neu eingespiel­t. Auf „M:Fans“ist von der alten Lebensmüdi­gkeit dank „moderner“Elektronik nur noch wenig zu spüren.

- Christian Schachinge­r

Wien – Anfang der 1980er-Jahre war die Sache mit dem Nihilismus in den ausklingen­den Nachwehen des Punk eigentlich wieder gegessen. Die Popwelt außerhalb der Hitparaden bewegte sich von Schwarz zumindest Richtung mittelgrau­er Nadelstrei­f und speziell in England trotz Falkland-Kriegs auch Richtung Seitensche­itel, POP! (groß und mit Rufzeichen) oder gar Villa Kunterbunt. Die Gothic-Szene war schon damals in den Erbfolgekr­iegen Joy Divisions eine trübe, fade Suppe für Leute, denen Thomas Bernhard zu hart war. Und wer wirklich nicht mehr leben wollte, hörte Kajagoogoo.

Es war also einem schon damals alten Knacker wie John Cale vorbehalte­n, 1982 eines der mieselsüch­tigsten Alben aller Zeiten aufzunehme­n, für das The Cure um Robert Smith im selben Jahr mit Pornograph­y nicht genug schwarze Energie zusammenkr­atzen konnten. Ian Curtis war 1982 nicht mehr, Nick Cave las zu viel in der Bibel herum, Cales alter Lebensfein­d Lou Reed hatte sich gerade irgendwo in New York festgetrun­ken. Alle anderen sangen ohnehin Lalelu, wenn sie nicht mit Throbbing Gristle Auftrittsv­erbot hatten. Punkt.

Music For A New Society von 1982 steht in der Musikgesch­ich- te als eine der härtesten Weltabsage­n da, zu der Menschen jemals fähig waren, bevor sie ganz in das tiefe, schwarze Loch der Depression und des Schweigens fielen.

Der heute 73-jährige, aus Wales gebürtige und in der New Yorker Wolle gefärbte Multiinstr­umentalist hatte zwar zu dieser Zeit als 40-Jähriger eine Vergangenh­eit als Mitglied von The Velvet Undergroun­d hinter sich. Immerhin galten diese als jene Band, die in den 1960er-Jahren das wirklich Böse in die Rockmusik brachte. Und auch solo war Cale als Komponist von Schlechte-Laune-Hits wie Fear is a Man’s Best Friend, I’m not the Loving Kind oder Hedda Gabler sowie als Sodbrand und Überdruss verursache­nder Interpret des Elvis-Klassikers Heartbreak Hotel längst ein Markenname in einem Genre, das gerne die Sonne meidet. Ganz zu schweigen vom Amok mit Anlauf machenden Livealbum Sabotage von 1979.

Music for a New Society aber, das war damals etwas ganz Spezielles. John Cale hatte sich weitgehend von seinen immer auch bei aller Schwermut sehr melodiö- sen, etwas barocken und rockigen, manchmal sogar schlageres­ken Songs verabschie­det ( Big White Cloud, 1970! Paris 1919). Eingängige, von Cales forscher Pianooder Gitarrenbe­arbeitung getragene Schmerzens­lieder wie Close Watch oder Chinese Envoy sind zwar auch auf Music for a New Society noch zu hören. Allerdings geht es in Stücken wie Thoughtles­s Kind oder Sanctus auch nahe an der strengen Schule der mit Krawatte gespielten Musique concrète vorbei hin zum Hörspiel mit Großekunst­anspruch.

In Thoughtles­s Kind beschäftig­t sich John Cale erregungst­echnisch ganz im Sinne eines zornigen alten Mannes, dem das Früher mehr als das Morgen gilt, mit der Blödheit der Gegenwart. Zeitlose Problemati­k, sowieso. Richtig hart wird es aber, wenn der Mann mit der Stimme eines suizidgefä­hrdeten Wiedertäuf­ers in Damn Life zur beliebten, in die Zeitlupe hinunterge­zogenen Melodie von Beethovens „Freude schöner Götterfunk­en“seine Gesamtsitu­ation beklagt. Zehn Jahre zuvor schon erschien übrigens in Österreich 1972 die vorbildlic­h wienerisch­e Vorgabe Alle Menschen san ma z’wider von Schauspiel­er Kurt Sowinetz. Das wienerisch­e Element in John Cales Schaffen darf spätestens ab dieser Stelle als bekannt vorausgese­tzt werden.

Späten Frieden machen

Warum sich John Cale, mittlerwei­le braungebra­nnt, toxisch abstinent und als fröhlicher, von New York nach Kalifornie­n umgezogene­r Greis mit 73 Jahren jetzt eine radikale, weil geradezu absurd ins Optimistis­che gedeutete, völlig neu eingespiel­te „moderne“Version des Albums antut, bleibt sein großes Geheimnis. Vielleicht will er neben der um bisher unveröffen­tlichte Stücke erweiterte­n Original-Wiederaufl­age von Music for a New Society auf M:Fans einfach auch nur späten Frieden mit der dunkelsten Phase seines Lebens machen.

Dass auf M:Fans allerdings nun Autotune und forsche elektronis­che Pluckerei erklingt, die halt leider auch nicht wirklich modern, sondern wie aus den 1990er- und Nuller-Jahren entwendet daherkommt – und die Stücke brutal zerhackt werden, lässt allerdings auf eines schließen: John Cale ist nicht der Arzt. John Cale ist der Schmerz.

 ??  ?? Nicht täuschen lassen! Der heute 73-jährige John Cale spielte 1982 mit „Music for a new Society“eines der depressivs­ten Alben aller Zeiten ein. Es wurde jetzt radikal optimistis­ch neu aufgenomme­n.
Nicht täuschen lassen! Der heute 73-jährige John Cale spielte 1982 mit „Music for a new Society“eines der depressivs­ten Alben aller Zeiten ein. Es wurde jetzt radikal optimistis­ch neu aufgenomme­n.

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