Mindestlohn schadet nicht
Seit dem Vorjahr darf in Deutschland mit kleinen Ausnahmen niemand weniger als 8,50 Euro brutto in der Stunde verdienen. Kritiker warnten vor massiven Jobverlusten, die bisher ausblieben. Fast vier Millionen profitieren.
Der 2015 eingeführte Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde hat in Deutschland nicht zu Jobverlusten geführt.
Es war eine der umstrittensten Fragen, die die deutsche Politik in den vergangenen Jahren beschäftigte: Wie viel ist eine Stunde menschliche Arbeit wert? Und wer legt das fest? Die schwarz-rote Bundesregierung hat auf beides eine Antwort gefunden, der deutsche Staat gibt seit Jänner 2015 vor, dass mit kleinen Ausnahmen niemand weniger als 8,50 Euro brutto pro Stunde verdienen darf.
Die Gewerkschaften jubelten, konservative Ökonomen schrien auf. Der lautstärkste Gegner des Mindestlohns, der streitbare Ökonom Hans-Werner Sinn, warnte vor 900.000 Jobs, die verlorengehen würden. Aber wie fällt die erste Bilanz nach einem Jahr Mindestlohn aus?
Das angekündigte Desaster hat jedenfalls nicht stattgefunden. Die Arbeitslosigkeit ist in Deutschland derzeit so niedrig wie seit 25 Jahren nicht mehr und ist mit dem Mindestlohn weiter gefallen, von 7,5 auf 7,1 Prozent. Unklar bleibt: Wäre sie ohne Lohnuntergrenze noch stärker gefallen? Darüber können Ökonomen aber nicht mehr als mutmaßen.
Viele neue Jobs im Osten
Ein Rundruf des STANDARD bei deutschen Instituten ergibt ein recht positives Bild: Beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht man keine negativen Effekte auf die Beschäftigung. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) sieht geringe negative Effekte, auch wenn die Datenlage noch keine endgültigen Schlüsse zulasse.
Was für den Mindestlohn spricht: In Ostdeutschland, das wegen niedriger Löhne deutlich stärker betroffen ist, ist die Zahl der Arbeitslosen um sechs Prozent gesunken, in Westdeutschland nur um drei Prozent. Die Arbeitslosenrate sinkt dort aber auch schon länger stärker als im Westen, auch das muss also noch nichts heißen. Fest steht: Die negativen Effekte sind bisher entweder nicht eingetreten oder wesentlich kleiner, als zuvor gewarnt wurde.
Bei den in Deutschland weitverbreiteten Minijobs, bei denen für bis zu 450 Euro im Monat keine Steuern fällig werden, sind aber wohl Arbeitsplätze wegen des Mindestlohns verlorengegangen. Immerhin fast zwei Drittel der geringfügig Beschäftigten verdien- ten 2013 weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Karl Brenke vom DIW geht davon aus, dass etwa 100.000 Menschen wegen des Mindestlohns nicht mehr ihrer „Mini“Arbeit nachgehen. Hans-Werner Sinn sieht sich deshalb in seinen Befürchtungen bestätigt.
Oft verdienen sich so Studenten, Hausfrauen oder Rentner etwas dazu. Ein Teil der Minijobs sei laut Brenke aber auch in eine bessere Anstellung umgewandelt worden. Der Großteil der Menschen in Minijobs verdient jetzt mehr als zuvor, insgesamt gibt es in Deutschland fast acht Millionen solche Arbeitsplätze.
Guter Zeitpunkt
Die deutsche Regierung habe Glück gehabt, sagt Brenke, weil der Arbeitsmarkt zum Zeitpunkt der Einführung des Mindestlohns ohnehin sehr gut gelaufen sei. Auch die Teuerung sei zuvor sehr niedrig gewesen. Dadurch konnten Unternehmen die höheren Kosten für ihre Mitarbeiter leichter an die Konsumenten weitergeben. Vor allem in Ostdeutschland seien vom Mindestlohn betroffene Dienstleistungen deutlich teurer geworden, sagt Brenke, etwa Taxis, Friseure oder Hotels.
Für Ökonomen ist das eine gute Nachricht: Steigen die Preise nicht, sinkt durch die höheren Kosten die Gewinnmarge, meistens werden dann Jobs abgebaut. Langfristig erwartet Brenke keine „großen Effekte“mehr durch den Mindestlohn.
Oliver Stettes vom von Arbeitgeberverbänden finanzierten IW Köln hingegen sieht den Lackmustest für den Mindestlohn hingegen erst in der nächsten Rezession, wenn Unternehmen einsparen müssen. „Wenn sich die Wirtschaft dann wieder erholt, stellen sich die Firmen die Frage, ob es sich lohnt, jemanden einzustellen“, sagt der Ökonom. Würden dann weniger Jobs geschaffen als bei früheren Wirtschaftsaufschwüngen, dann seien das die Schattenseiten des Mindestlohns.
In der jetzigen guten Konjunktur könne man wenig über mögliche Nachteile herausfinden, so Stettes. Kritiker fürchten, dass vor allem Menschen ohne Ausbildung schwer für über 8,50 Euro pro Stunde vermittelbar sind. Unter Arbeitsmarktökonomen ist es eine ungeklärte und hitzig geführte Debatte, ob moderate Mindestlöhne es Niedrigqualifizierten erschweren, eine Arbeit zu finden.
Während die kurzfristigen negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt wohl gering bis nicht vorhanden sind und sich die langfristigen erst zeigen müssen, ist eines schon jetzt klar: Knapp vier Millionen Deutsche verdienen seit dem Vorjahr mehr.