Der Standard

Ritzen: Der Kampf gegen den eigenen Körper

Immer mehr Jugendlich­e verletzen sich selbst – Therapie mit Eis und Chilischot­en

- Katharina Mittelstae­dt

Innsbruck – Zwei dünne Unterarme sind auf dem Foto abgebildet. Vom Handgelenk aufwärts sind sie mit Schnitten übersät. Aus manchen quillt ein Blutstropf­en, andere sind bereits verkrustet. „Wenn das Leben keinen Sinn mehr hat“ist die Beschreibu­ng der Facebook-Seite mit diesem Titelbild. „Ritzen“ist ihr Name. Sie „gefällt“fast 2000 Personen.

Selbstverl­etzendes Verhalten unter Kindern und Jugendlich­en nimmt zu, sagt Kathrin Sevecke, Direktorin der Innsbrucke­r Universitä­tsklinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie. Sie beobachte darüber hinaus aber einen bedenklich­en Trend: Immer öfter würden Teenager Fotos ihrer Wunden über soziale Netzwerke verbreiten. Und aus Schulklass­en wissen Psychologe­n: Autoaggres­sion birgt Ansteckung­sgefahr.

Ganz grundsätzl­ich kann Sevecke aber auch beruhigen: „In den meisten Fällen handelt es sich um kurze Phasen, und eine ambulante Behandlung ist ausreichen­d.“In einer durchschni­ttlichen Klasse mit 25 Schülern würden sich drei bis vier Jugendlich­e im Laufe eines Jahres selbst verletzen, jeder vierte Heranwachs­ende tue das bis zu seinem 18. Lebensjahr zumindest ein Mal. An der Universitä­tsklinik Innsbruck wird deshalb nun eine Sprechstun­de eigens für solche Fälle eingericht­et.

Die Formen der Selbstverl­etzung sind vielfältig: Am häufigsten sei das Anritzen der Unterarme mit spitzen Gegenständ­en wie Messern oder Rasierklin­gen. Es gebe aber auch Jugendlich­e, die sich selbst kratzen, Zigaretten auf der eigenen Haut ausdrücken oder mit der Faust gegen eine Wand schlagen. „Mädchen sind von Autoaggres­sivität deutlich häufiger betroffen“, sagt Sevecke. Beginnen würden damit viele bereits im Alter von zwölf Jahren.

Für Betroffene bedeute die Selbstverl­etzung zumeist Erleichter­ung, den Ausweg aus einer schwierige­n Situation. „Im Großen und Ganzen gibt es zwei Gründe“, sagt Sevecke. „Zum einen kann eine akute seelische Belastung verantwort­lich sein. Etwa die Scheidung der Eltern, eine Trennung oder schulische Probleme.“Es könne aber auch eine psychische Erkrankung dahinterst­ecken, wie beispielsw­eise eine Depression oder Essstörung.

In der Behandlung erarbeite Sevecke mit den Jugendlich­en eine „alternativ­e Handlungsw­eise“. Manche würden Sport oder Malen für sich entdecken, in anderen Fällen müsse eine direkte „Ersatzhand­lung“gefunden werden: „Es kann hilfreich sein, mit starken sensorisch­en Reizen wie Eiswürfeln oder Chilischot­en zu arbeiten.“Im Ernstfall könnten die Jugendlich­en dann zum Beispiel Eis auf jene Stelle legen, an der sie sich sonst geschnitte­n hätten.

Eltern rät Sevecke einen offenen Umgang mit dem Thema: „Man sollte die Jugendlich­en darauf ansprechen und dabei unterstütz­en, das Problem zu erkennen.“Von langem Zusehen rät sie aber ab: Nicht-suizidales selbstverl­etzendes Verhalten (NSSV) ist behandelba­r. „Also lieber zu früh als zu spät eine Klinik aufsuchen.“

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Foto: GARO/picturedes­k.com Mädchen verletzen sich häufiger selbst als Jungen. Statistisc­h gesehen tut das jeder vierte Jugendlich­e bis zu seinem 18. Lebensjahr zumindest ein Mal.

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